Die Geschichte einer Konfiskation

Ein galizisches Lebensbild

 

 

Seine Exzellenz war sehr pünktlich. Schlag neun Uhr war er schon im Amts­gebäude, nahm huldvollst die tiefen Bücklinge des Portiers entgegen, machte einen Rundgang durch die geräumigen Gänge des Gebäudes, trat hie und da ohne anzuklopfen in eine Kanzlei ein, um sich bei dem dort amtshandelnden Würden­träger über den Gang der Geschäfte zu informieren. Es handelte sich ihm hiebei nicht so sehr um die Informationen, als darum, nachzusehen, ob alle Beamte pünktlich in der Kanzlei seien. Seine Exzellenz vertrug keine Saumseligkeit, und es machte ihm einen riesigen Spaß, dem saumseligen Beamten seine Visitkarte auf den Bürotisch zu legen: Er wußte schon, der arme Teufel werde den ganzen Tag wie vergiftet herumgehen, weil die verhängnisvolle Visitkarte die Waage seiner Qualifikation wie ein Brennusschwert belasten wird.

 

Erst nach diesem Rundgange kam Seine Exzellenz in seine eigene Kanzlei. Er war höchst vergnügt, lächelte, indem er sich von dem Kanzleidiener bedienen ließ, und warf den ersten Blick auf den Tisch mit den neuen Zeitungen. Er las jeden Tag alle in Galizien erscheinenden Zeitungen, um sich über die im Lande herr­schende Stimmung zu informieren; besonders eifrig las er die Lemberger Zeitungen, am eifrigsten natürlich die oppositionellen.

 

„Sind die Zeitungen schon da?“ fragte er den Amtsdiener.

 

„Zu dienen, Euer Exzellenz!“ war die Antwort.

 

Seine Exzellenz trat an den Zeitungstisch heran und musterte mit einem raschen Blicke das gestern abends und heute früh Erschienene. Da lagen sie in schönster Ordnung und Eintracht nebeneinander: die amtliche „Lemberger Großmutter“ mit ihrem ruthenischen Anhängsel, dem „Nationalen Schoßhünd- chen“ -r eine Schöpfung, auf welche Seine Exzellenz nicht wenig stolz war. Daneben lag die immer willige und dienstbeflissene „Buttermannsche Revue“, der einst grimmige, jetzt aber altersschwache „Nationale Hader“ und links die beiden Oppositionsblätter, der „Lemberger Fourageur“ und der

 

Ja, was war denn das? Der andere Oppositionsmann, der „Polnische Strohsack“, ließ sich nicht blicken! Wo war er denn? Ist ihm etwas passiert?

 

„Wo ist denn der »Polnische Strohsack' ?“ fragte Seine Exzellenz den Amts­diener,

 

„Man hat ihn noch nicht gebracht.“

 

„Was Teufel? Warum denn nicht?“

 

Seine Exzellenz war ungehalten. Auf die heutige Nummer des „Polnischen Strohsacks“ war er besonders gespannt. Sie sollte ein kleines Meisterwerk der Journalistik sein, ein Triumph seiner Regierungspolitik. Vor zwei Tagen hatte er es ja mit dem Redakteur abgemacht. Der grimmige Oppositionsmann war zu ihm gekommen und hatte ganz verständige, ganz originelle Ideen über das Wesen der unabhängigen Journalistik, wie sie die polnische Nationalität in Galizien benötigte, entwickelt. „Exzellenz“, hatte er gesagt, „ich bin Euer Gegner. Ich bin ein Demokrat, ein aufrichtiger Demokrat, wie es nur ein Pole sein kann, bin vielleicht der einzige konsequente polnische Demokrat in Galizien. Und darum komme ich zu ihnen. Unser gemeinsamer Freund, der Herr mit dem großen Barte, hat mich darum gebeten. Ich habe ihm nämlich meine Idee über das Wesen der unabhängigen nationalen Journalistik entwickelt, und er hat gesagt:

 

,Das müssen Sie Seiner Exzellenz persönlich vortragen. Er wird sehr erfreut sein,

 

Sie zu hören.' Da bin ich also. Und meine Idee? Sie ist einfach wie alles Große.

 

Die polnische Journalistik in Galizien hat einen schweren Stand im Kampfe mit verschiedenartigsten feindlichen Elementen, und darum muß es ihre erste Sorge sein — unabhängig zu werden. Unabhängig! Das ist meine «Losung. Unabhängig nicht nur nach oben, sondern auch nach unten. Unabhängig von der Tyrannei der fremden Machthaber, aber auch unabhängig von der weit schlimmeren Tyran­nei der Massen, der Parteiungen, der Tageslosungen, der sogenannten politischen Prinzipien und Doktrinen. Der polnische Journalist muß imstande sein, den ein­gewurzelten Vorurteilen seiner Mitbürger, auch seiner Abonnenten, entgegen­zutreten. Er muß kein Diener, sondern ein Lehrer seiner Nation sein. Er muß imstande sein, das Schiff der öffentlichen Meinung bald nach rechts und bald nach links zu lenken, wie es eben für nationale Interessen notwendig ist. Dazu gehört natürlich vor allem Mut — und den habe ich. Dann aber gehört dazu auch eine von der Journalistik unabhängige materielle Versorgung. Reptiliengelder kann ich nicht brauchen, aber es gibt doch auf administrativem und autonomem Gebiete so viele schöne Stellen, wo es wenig zu arbeiten und viel zu verdienen gibt! Eine solche Stelle habe ich mir auch erwählt. Der Herr mit dem großen Barte hat mir schon seine Protektion versprochen. Wenn aber Eure Exzellenz ihr gewichtiges Wort auch in die Waagschale werfen möchte... Übrigens versichere ich Eure Exzellenz, daß ich sowieso meine journalistische Taktik diesen eben jetzt von mir auseinandergesetzten Anschauungen konform umgestalten werde, und übermorgen soll in einem Leitartikel der erste Vorstoß in dieser Richtung gemacht werden. Mehr sage ich nicht, hoffe aber, Exzellenz werden zufrieden sein.“ Noch nie hat seine Exzellenz so herzlich gelacht wie nach dem Abgänge dieses grimmigen Oppositionsmannes und einzigen polnischen Demokraten in Galizien. Es war auch kein Spaß! Seine Menschenkenntnis hatte sich dabei um ein Bedeu­tendes erweitert, und welcher Mensch könnte bei einer solchen Erweiterung seine herzliche Freude unterdrücken?

 

Kein Wunder also, daß Seine Exzellenz auf die heutige Nummer des „Polni­schen Strohsacks“ sehr gespannt war. Kein Wunder, daß er sehr ungehalten war, als er die sehnlich erwartete Nummer auf seinem Tische nicht fand. Er lief stracks zum Telefon.

 

Kling, kling!

 

„Bitte mich mit der Polizeidirektion zu verbinden.“

 

Kling, kling!

 

„Ist der Herr Polizeidirektor beim Telefon „Zu dienen, Exzellenz!“

 

„Ist die heutige Nummer des ,Polnischen Strohsacks4 konfisziert?“

 

„Ich weiß es nicht, Exzellenz! Werde gleich nachfragen.“

 

„Sie wissen nie etwas, Herr Hofrat, das ist das Charakteristische an Ihnen. Bitte, fragen Sie gleich, ich warte auf Antwort.“

 

Der Herr Polizeidirektor kam leichenblaß vom Telefon, klingelte und ließ den in Preßsachen amtshandelnden Polizeikommissär rufen.

 

„Ist die heutige Nummer des ,Polnischen Strohsacks' konfisziert?“

 

„Nein, Herr Hofrat.“

 

„Unglücksmensch! Wie lesen Sie die Zeitungen? Es muß etwas Schreckliches drinstehen. Seine Exzellenz ist sehr ungehalten. Fahren Sie gleich in die Redaktion und konfiszieren Sie das Blatt!“

 

„Vielleicht hat die Staatsanwaltschaft dort etwas gefunden“, wendete der Polizeikommissär schüchtern ein, „ich konnte nichts finden.“

 

„Eilen Sie nur und konfiszieren Sie schnell, ich werde mich mit der Staats­anwaltschaft verständigen.“

 

Weg war der Polizeikommissär, der Herr Polizeidirektor aber lief zum Telefon. Kling, kling.

 

„Sind Euere Exzellenz beim Telefon?“

 

„Ich bin’s, Herr Hofrat. Was ist’s also mit dem ,Polnischen Strohsack'?“

 

„Er wurde eben in diesem Augenblicke konfisziert.“

 

„Ah, so! Danke, Herr Hofrat!“

 

„Ein Lumpenpack, diese Journalisten!“ murmelte Seine Exzellenz höchst ent­täuscht, indem er vom Telefon wegging. „Hier verspricht er mir ganz unzwei­deutig, er werde umsatteln, und ich lege schon mein Wort für ihn ein, und nun schreibt die Bestie konfiskationswürdige Artikel! Das ist doch infam! Ich muß darüber mit dem Herrn mit dem großen Barte ein ernstes Wort reden!“

 

Mittlerweile war der Herr Polizeidirektor noch immer beim Telefon.

 

Kling, kling!

 

„Bitte mich mit der Staatsanwaltschaft zu verbinden!“

 

Kling, kling!

 

„Ist der Herr Staatsanwalt beim Telefon?“

 

„Jawohl. Mit wem spreche ich?“

 

„Ich bin der Polizeidirektor.“

 

„Ach, guten Morgen, Herr Hofrat! Womit kann ich dienen?“

 

„Ist die heutige Nummer des ,Polnischen Strohsacks' konfisziert?“

 

„Nein. Ich habe nichts drin gefunden.“

 

„Es muß doch etwas drin sein. Seine Exzellenz war sehr ungehalten. Ich schickte schon meinen Kommissär, um die Konfiskation zu bewerkstelligen. Bitte Sie also, die Nummer noch einmal zu lesen. Seine Exzellenz wünscht ausdrücklich, daß die Nummer konfisziert werde.“

 

„Ah, so! Ich werde suchen. Gehorsamer Diener!“

 

„Auf Wiedersehen!“

 

Der Herr Staatsanwalt wurde purpurrot beim Telefon, wie er es gewiß selbst damals nicht geworden war, als ihn bei seinem ersten Stelldichein mit einem Mädchen der Vater ertappt hatte.

 

Was Teufel! In der Nummer sollte etwas Illegales sein und ich hätte es nicht bemerkt? Seine Exzellenz war sehr ungehalten! Der Teufel noch einmal, das riecht nach einer schlechten Anmerkung im Qualifikationsbogen! Nehmen wir die verdammte Nummer noch einmal durch!

 

Und mißmutig vertiefte er sich in nochmaliges, minutiös aufmerksames Lesen, so minutiös und aufmerksam, wie nur die Staatsanwälte in Österreich zu lesen verstehen.

 

Gott soll mich strafen, murmelte er, sich bei dieser Arbeit unterbrechend und eine Zigarre anzündend, wenn ich in diesem leeren Stroh auch ein einziges Korn der Illegalität finden kann! Im Gegenteil, mir scheint, daß die Redaktion ganz unzweideutig eine Schwenkung von dem demokratisch Phrasenhaften zum ver­deckt Regierungsfreundlichen vollzieht. Wo soll hier irgendein Verbrechen stecken? Ist schon wahr, dürfte ich für einen Augenblick nur Mensch und kein Beamter sein, würde ich das Schundblatt nicht nur konfiszieren, sondern einfach unterdrücken. Ja, aber das geht nicht! Na, in Gottesnamen, versuchen wir es noch einmal mit dem Suchen.

 

Er war noch dabei und noch immer resultatlos, als die Tür sich öffnete, der in Preßsachen amtshandelnde Polizeikommissär hereintrat und hinter ihm drei oder vier Polizeisoldaten, Lasten von frisch gedruckten und gleich von der Maschine weg konfiszierten Nummern des „Polnischen Strohsackes“ herbeischleppend und in der Ecke des Zimmers deponierend.

 

„Die Nummer hatte sich verspätet und konnte erst jetzt in der Druckerei beschlagnahmt werden. Kein einziges Exemplar wurde verkauft“, meldete der Polizeikommissär.

 

„Sehr wohl“, sagte der Staatsanwalt, „aber Sie werden vielleicht die Güte haben, mir zu sagen, warum eigentlich diese Nummer konfisziert wurde?“

 

„Ich dachte, der Herr Staatsanwalt werden es schon wissen.“

 

„Ich? Habe keine blasse Ahnung. Ich suche schon eine halbe Stunde und kann in der Nummer gar nichts Konfiskables finden.“

 

„Es muß doch etwas drin sein!“ sagte bedenklich der Polizeikommissär. „Der Herr Hofrat hat mir streng befohlen, sie sogleich zu konfiszieren, und sah ganz blaß und verstört aus.“

 

„Gott im Himmel!“ schrie der Staatsanwalt in heller Verzweiflung. „Das ist ja einfach zum Übersehnappen! Bin ich denn am Ende mit Blindheit geschlagen worden? Bitte, Herr Kommissär, setzen Sie sich und helfen Sie mir suchen. Viel­leicht sind Sie glücklicher.“

 

Der Kommissär verneigte sich, setzte sich auf einen Sessel, nahm eine der konfiszierten Nummern in die Hand, und es enstand ein tiefes ernstes Schweigen im Zimmer. Beide Herren vertieften sich in die Lektüre des illegal sein sollenden „Polnischen Strohsackes“.

 

In der Redaktion des „Polnischen Strohsackes“ herrschte eine Stimmung wie in einem Hause, wo eben ein Toter zur Türe hinausgetragen wurde. Da stürzte der Chefredakteur herein.

 

„Tausend Teufel! Was ist denn das für eine Wirtschaft! Es ist schon beinahe zehn Uhr und keine einzige Nummer des „Strohsackes“ ist noch in der Stadt zu erblicken. Ist die Druckerei abgebrannt? Sind alle Maschinen kaputt?“

 

„Nein, die Nummer ist konfisziert worden.“

 

„W-a-a-s?“

 

Der Chefredakteur starrte ins Leere, schnappte nach Luft und konnte kein Wort hervorbringen.

 

„Der Polizeikommissär war eben hier. Er hat die ganze Auflage geradeaus von der Druckerei zum Staatsanwalt geschleppt.“

 

„Aber das ist ja nicht möglich!“ schrie der Redakteur aus der Tiefe seiner Verzweiflung.

 

„Und doch wahr.“

 

„Und was war der Grund der Konfiskation“?

 

„Der Kommissär wollte es nicht sagen. Der Herr Redakteur möge zum Staats­anwalt kommen, dort werde er es schon erfahren.“

 

„Mein Gott! Mein Gott! Die heutige Nummer konfisziert! Das hätte ich nie für möglich gehalten! Hat vielleicht einer von den Herren irgendein Kuckucksei in der letzten Minute hineingelegt?“

 

Keiner der Mitarbeiter war sich irgendeines Verbrechens bewußt.

 

„Na, ich werde es schon erfahren!“

 

Und er stürzte zur Staatsanwaltschaft.

 

Tam! tam! tam!

 

„Herein!“

 

„Guten Tag, Herr Staatsanwalt!“

 

„Ah, guten Tag, Herr Redakteur! Womit kann ich dienen?“

 

„Bitte. Die heutige Nummer des ,Polnischen Strohsackes‘ ist mir konfisziert worden. Könnte ich nicht erfahren, aus welchem Grunde?“

 

„Sehr gerne. Bitte, da sehen Sie.“

 

Und er zeigte ihm die Nummer, wo einige Stellen rot unterstrichen waren. Horreur! Es war sein eigener Leitartikel, von dem er sich so Großes bei Seiner Exzellenz versprochen hatte! Er konnte die unterstrichenen Stellen nicht lesen, denn es begann ihm vor den Augen zu flimmern und zu flackern.

 

„Aber... aber... Herr Staatsanwalt“, stammelte er.

 

„Bitte, setzen Sie sich“, sagte der humane Beamte und schob ihm einen Sessel zu, nahm dann die Nummer in die Hand und begann laut vorzulesen:

 

.„Österreich hat der polnischen Nation so viele Wunden geschlagen, hat Galizien solange ausgebeutet, das polnische Nationalgefühl so lange unterdrückt und depra­viert‘ — bitte Sie, ist das nicht eine ausdrückliche Aufreizung zum Haß und zur Verachtung gegen Österreich?“

 

„Verzeihen Sie, Herr Staatsanwalt, es ist ja nur die erste Hälfte des Satzes und in der anderen Hälfte steht doch wörtlich zu lesen, ... daß es nur als ein Akt der geschichtlichen Gerechtigkeit zu betrachten ist, wenn wir jetzt, dank der aus­dauernden und aufopferungsvollen Arbeit unserer Staatsmänner zu einer unserer Nation würdigen Stellung und zur entscheidenden Einflußnahme in Österreich kommen'. Ist das eine Aufreizung?“

 

„Ach, Herr! Ihre Sätze sind lang. Wer den Anfang liest, kommt vielleicht nicht dazu, auch das Ende zu lesen. Oder sehen Sie sich den andern Satz an:

 

,Die drakonische Verfolgung unserer Nation in Preußen, der schändliche Aus­rottungskrieg, welcher dort gegen Polen nicht nur von hirnverbrannten Pseudo­philosophen wie Hartmann gepredigt, sondern auch von der junkerlichen Regierung mit unerhörter Brutalität geführt wird' — bitte Sie, es ist ja eine Be­leidigung einer mit unserer Monarchie im freundschaftlichen Bunde stehenden Regierung! Und Sie wollen, daß ich Ihnen das stehenlasse?“

 

„Bitte aber nur den Satz zu Ende zu lesen!“ flehte der Redakteur. „Dort steht ja Folgendes:,... ist ein Grund mehr für uns, an Österreich mit allen unseren Fasern festzuhalten'.“

 

„Natürlich, natürlich! Diese Worte habe ich nicht konfisziert, aber sagen Sie doch selbst: Der Vordersatz hat trotzdem seine eigene Bedeutung und dieser Vordersatz ist doch strafwürdig. Oder nehmen wir noch ein drittes Exempel:

 

,Unsere politischen und autonomen Behörden legen so viel Laxheit, Fahrlässig­keit und sogar strafbaren Leichtsinn an den Tag' — na, Herr Doktor, solche Injurien gegen die Beamtenschaft können doch nicht zugelassen werden.“

 

„Aber Herr Staatsanwalt!“ schrie der zur Verzweiflung getriebene Redakteur auf, „warum lesen Sie immer nur die erste Hälfte des Satzes? Heißt es doch in der weiteren Hälfte des Satzes: , ... daß es erst der Riesenkraft unseres größten Staatsmannes bedurfte, um das Niveau unserer Administration so hoch empor­zuheben, wie wir es jetzt hoch erstaunt, aber noch nicht dankbar genug sehen.’ Ist das eine Injurie? Ist das Schmähung? Ist das Verbrechen?“

 

„Ihre Ansicht ist Ihre Ansicht, ich bleibe bei der meinigen. Möge das Gericht entscheiden, wer von uns recht hat. Übrigens ist der Konfiskationsantrag nicht von mir, sondern von der Polizeidirektion ausgegangen. Wenden Sie sich an den Herrn Polizeidirektor. Wenn er binnen einer Stunde seinen Antrag zurücknimmt, so habe ich nichts dagegen. Dann aber muß ich die Sache dem Gerichte übergeben.“

 

Tam! tam! tam!

 

„Herein!“

 

„Untertäniger Diener des Herrn Hofrates!“

 

„Ach, Herr Redakteur! Bitte, setzen Sie sich! Was haben Sie mir zu sagen?“ „Ich komme wegen dieser Konfiskation ...“

 

Herr Pölizeidirektor zuckte mit den Achseln. „Was kann ich Ihnen da helfen?“ „Der Staatsanwalt hat gesagt, wenn der Herr Hofrat den Antrag zurückrufen wollten, so möchte er die Nummer freigeben.“

 

„Zurückrufen! Den Antrag! Aber ich habe ja gar keinen Antrag gestellt und folglich kann ich nichts zurückrufen.“

 

„Der Staatsanwalt sagte doch ...“

 

„Aber nein, nein! Sie irren sich, und er irrt sich auch.“

 

„Es ist ja zur Konfiskation gar kein Grund vorhanden, Herr Hofrat!“

 

„Ach was! Gar kein Grund! Sehen Sie nur da!“ Und er zeigte dem verblüfften Redakteur eine rot angestrichene Notiz in der Lokalchronik:

 

„Herr Leo Zamiatalski hat sich gestern mit Fräulein Olga Pumpinska verlobt. Das Familienfest wurde im engsten Freundeskreise, aber nichtsdestoweniger herzlich und freudig begangen.“

 

„Das also war der Grund der Konfiskation!“ rief der Redakteur höchst ver­wundert aus. „Verzeihen Sie, Herr Hofrat, aber das geht über mein Begreifen. Übrigens wurde mir diese Notiz persönlich von dem betreffenden Herrn gebracht.“ „Von dem betreffenden Herrn?“ rief der Polizeidirektor. „Kennen Sie den be­treffenden Herrn?“

 

„Ja, ich habe eben gestern seine Bekanntschaft gemacht. Ein sehr distinguierter junger Mann.“

 

„Hat er sich als Leo Zamiatalski legitimiert?“

 

„Legitimiert? Das nicht, aber vorgestellt.“

 

„Das hab’ ich mir auch gedacht. Wissen Sie also, daß Sie einer nichtsnutzigen Mystifikation zum Opfer gefallen sind? Herr Leo Zamiatalski ist gar kein junger Mann, sondern der bekannte Bezirkshauptmann in X., ein älterer würdiger, längst verheirateter Mann, und Fräulein Olga Pumpinska ist die Kammerzofe bei der Frau Seiner Exzellenz. Und Sie müssen wissen — ich sage es Ihnen im Vertrauen—, daß der Antrag auf die Konfiskation Ihres heutigen Blattes von keinem Geringeren als von Seiner Exzellenz selbst ausgegangen ist. Sie können sich schon denken, wie ungehalten Seine Exzellenz beim Anblicke dieser nichts­würdigen Notiz war.“

 

Der Redakteur stand wie vom Donner gerührt da und konnte einige Minuten seiner Sinne nicht Herr werden.

 

Es war zwölf Uhr. Die fatale Nummer des „Polnischen Strohsackes“ war end­lich nach dreistündiger Verspätung und mit Weglassung der beiderorts inkri­mierten Stellen erschienen. Erschöpft und tief bis ans Herz hinan ärgerlich trat der Redakteur dieses Blattes in das luxuriös ausgestattete Arbeitszimmer seines mächtigen Gönners, des Herrn mit dem großen Barte, ein.

 

„Ah, guten Tag, Doktor!“ rief der Herr mit dem großen Barte freundlich und streckte ohne aufzustehen dem Kommenden seine Hand entgegen. „Aber um Gottes willen, wie sehen Sie denn aus? So bleich? So verstört? Ist Ihnen ein Unglück geschehen?“

 

„Nicht weit davon“, sagte traurig der Redakteur, erzählte das Geschehene und legte seinem Gönner die rotgestreifte Nummer vor. Dieser überlief die ange­merkten Stellen und schlug mit der Faust auf den Tisch.

 

„Aber ich sehe ja absolut keinen Grund zu einer Konfiskation drin!“

 

„Ich auch nicht. Der Leitartikel...“

 

„Ist prachtvoll! Ganz in dem Geiste verfaßt, wie Sie uns auseinandergesetzt haben.“

 

„Und die Notiz ...?“

 

„Ärgerlich, das ist wahr, aber doch eine reine Privatangelegenheit.“

 

„Das Traurigste an der Sache ist, daß Seine Exzellenz selbst den Auftrag zur Konfiskation gegeben hat.“

 

Der Herr mit dem großen Barte fuhr wie von einer Viper gestochen auf.

 

„Das ist unmöglich! Woher wissen Sie es?“

 

„Der Polizeidirektor hat mir das gesagt.“

 

„Zum Teufel! Es steckt etwas drin. So, wie die Sache vorliegt, klingt sie mir doch unwahrscheinlich. Ich will und ich muß ihr auf den Grund kommen. Adieu, mein Lieber. Sie brauchen sich nicht zu grämen. Lassen Sie mir diese kolorierte Nummer! Ich werde morgen oder übermorgen Seine Exzellenz sehen und mit ihm darüber sprechen. Und Sie selbst — bitte, lassen Sie sich durch die heutige Konfiskation nicht beirren, gehen Sie in der einmal eingeschlagenen Richtung immer weiter. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, es wird schon gut werden.“

 

Der Herr mit dem großen Barte war eine einflußreiche, vielvermögende, viel, umworbene und vielbeschäftigte Persönlichkeit. Es verflossen volle drei Tage, ehe er Zeit fand, bei Seiner Exzellenz vorzusprechen. Nachdem die beiden Herren sich über dies und jenes ausgesprochen hatten, bemerkte der Herr mit dem großen Barte:

 

„Bitte, Exzellenz, wie ist es denn mit der Konfiskation der vorgestrigen Num­mer des .Polnischen Strohsackes' gewesen?“

 

„Was weiß ich? Ich war so begierig auf diese Nummer, und man hat mir gesagt, sie sei konfisziert.“

 

„Wie? Haben Exzellenz keinen Auftrag gegeben, sie zu konfiszieren?“

 

„Ich? Wie komme ich dazu? Bin ich ein Staatsanwalt?“

 

„Ach, das ist prächtig!“ lachte der Herr mit dem großen Barte. „Der Polizei­direktor hat ja dem Redakteur gesagt, Eure Exzellenz haben befohlen, die Nummer zu konfiszieren.“

 

„Ich habe sie gar nicht zu Gesicht bekommen!“

 

„Hier ist sie. Die konfiszierten Stellen sind durch Striche kenntlich gemacht, und ich muß sagen, daß mir diese Stellen gar nichts Konfiskationswürdiges zu enthalten scheinen.“

 

„Im Gegenteil“, sagte Seine Exzellenz, nachdem er den Leitartikel gelesen hatte, „der Artikel ist ganz hübsch und hätte gewiß einen Eindruck gemacht.“

 

„Ich denke, das Gericht wird die Konfiskation nicht bestätigen.“

 

„Gewiß nicht, gewiß nicht! Übrigens wird es nicht schaden, wenn ich dem Ge­richtspräsidenten eine kleine Aufklärung geben lasse.“ Und Seine Exzellenz lief zum Telefon.

 

Kling, kling!

 

„Bitte mich mit der Polizeidirektion zu verbinden!“

 

Kling, kling!

 

„Ist der Herr Polizeidirektor beim Telefon?“

 

„Zu dienen, Exzellenz.“

 

„Sie dienen mir schlecht, Herr Hofrat. Wie können Sie sagen, ich habe Ihnen befohlen, den ,Polnischen Strohsack' zu konfiszieren?“

 

„Hab’ es so verstanden, Exzellenz.“

 

„Wenn Sie alles so verstehen, Herr Hofrat, so verdienen Sie unverzüglich ins Herrenhaus abgeschoben zu werden. Haben Sie auch dem Gerichtspräsidenten die Geschichte so dargestellt?“

 

„Natürlich, Exzellenz.“

 

„Bitte also, telefonieren Sie ihm gleich, die Sache sei unrichtig, ich hätte keinen derartigen Auftrag gegeben und die Konfiskation möge vom Gerichte nicht be­stätigt werden. Es liegt mir sehr viel daran, daß der Artikel in ursprünglicher Gestalt sobald als möglich wieder veröffentlicht werde.“

 

Kling, kling!

 

„Sind Sie es, Herr Hofrat?“

 

„Zu dienen Exzellenz.“

 

„Nun, was gibt’s?“

 

„Habe soeben telefonische Antwort vom Gerichtspräsidenten bekommen.“

 

„Was sagt er?“

 

„Die Konfiskation wurde vor einer halben Stunde vom Landesgerichte vollauf bestätigt.“

 

 

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Erschienen zum erstenmal in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“, Bd. 9, Nr. 245 (10. Juni 1899), S. 164—67. Spätere Nachdrucke in: „Berliner Tageblatt“ und „Sonntags­blatt der New York Volkszeitung“. Erstveröffentlichung dieser Erzählung in ukr. Sprache in der Sammlung „Сім казок“ durch die ukrainisch-russische Verlagsgesellschaft (Lemberg 1900), der auch der in Твори, Bd. 4, Kiew 1950, S. 164—73, wiedergegebene Text folgt.

 

Der vorliegende deutsche Text wurde nach der Erstveröffentlichung in der „Zeit“ gestaltet.

 

Zeitungstitel, die in dieser Erzählung verwendet werden, erscheinen in travestierter Form (vgl. auch Твори, Bd. 4, S. 514); es entsprechen „Lemberger Großmutter“ — „Gazeta . Lwowska“, „Nationales Schoßhündchen“ — „Narodna Czasopis“, „Buttermann’sche Revue“ — „Przegląd“, „Nationaler Hader“ — „Gazeta Narodowa“ und „Lemberger Fourageur“ — „Kurjer Lwowski“.

 

 

30.09.1898