Die galizische Schöpfungsgeschichte

Ein bekanntes Sprichwort empfiehlt: Wenn zwei dir sagen, du seiest betrunken, so leg dich schlafen. Zwei edle polnische Grafen, Badeni und Piniński, haben mir nachdrücklich zu Gemüte geführt, ich gehöre nicht auf die politische Arena. Also hab’ ich mich — auf die Literaturgeschichte, Ethnographie und ähnliche Ruhe­polster verlegt und „lausche dem Gesumme der Hummeln“, wie man bei uns zu Lande sagt. Leider bekomme ich auch hier recht sonderbare Klänge zu hören. Unter den Sprichwörtern, Märchen und Schwänken, die ich nach dem Volksmund aufzeichne, finden sich manchmal kuriose Motive, mit denen ich nicht weiß, was anzufangen. Zu den Pariser Κρνπτάδια* ist mir ein wenig zu weit, und so mögen einige in den Spalten Ihres Blattes Verwendung finden. Hier gleich die erste. Sie heißt „Die galizische Schöpfungsgeschichte“ und lautet:

 

Im Anfang war der Schnaps.

 

Er war zuerst chaotisch. Ein jeder durfte ihn brennen, verkaufen oder auch höchsteigen trinken.

 

Da kam aber der Ungarwein ins Land. Und der war teuer. Und so schied Gott die Schnapstrinkenden von den Weintrinkenden und gab den letzteren eine Gewalt über die ersteren. Und so kam es, daß die anderen nur den Schnaps brennen und trinken mußten, aber brennen für die anderen und trinken für ihr gutes Geld — die anderen aber bekamen den fertigen Schnaps und verkauften ihn für ihre Rechnung, um sich mit Ungarwein volltrinken zu können.

 

Das war der zweite Tag, und er hieß: Propination.

 

Es war ein langer Tag. Damals wurde das lateinische ,,cujus regio, ejus religio“ ins Galizische übersetzt: „Wessen Gebiet, dessen Propination.“ Die Bevölkerung wurde in zwei Schichten geteilt: die einen, bei denen das Schnapstrinken obli­gatorisch war, hießen Bauern oder Vieh, und die anderen, welche in dem Schnaps­trinken der Bauern die Hauptquelle ihres Wohlstandes erblickten, hießen Schlach­tschitzen, zuweilen auch Freiheitshelden, Vaterlandsretter, Märtyrer der nationalen Sache oder allgemein „Nation“.

 

Da begann es aber im Lande sich zu rühren und zu regen. „Nationale Heilig­tümer“ wurden mit Füßen getreten, alte Zaunpfähle wurden niedergerissen, und verschiedene Grundpfeiler wurden wackelig gemacht. Einen Posten nach dem anderen verloren die Verteidiger des Alten.

 

Schließlich konzentrierten sie ihre Kräfte auf dem letzten Bollwerk, und das war eben die Propination. Sie wurde damals heiliggesprochen. Leider vergaßen jene, welche sie in den Geruch der Heiligkeit brachten, daß man nur einen Toten heiligsprechen kann. Erst nachträglich bemerkten sie ihren Fehler und berat­schlagten, was mit diesem heiligen Bollwerke der schlachtschitzischen Nationalität zu tun wäre. Gemäß der glorreichen nationalen Tradition beschloß man, das Heilig­tum — zu verkaufen.

 

Das war der dritte Tag, und er hieß: die Propinationsablösung.

 

Da erhob sich ein Mann groß in der Ratsversammlung und sagte:

 

„Laßt uns nicht sein wie zweitausend Judasse! Laßt uns unser nationales Heiligtum nicht um dreißig Silberlinge verkaufen. Wenn es so sein muß, so ver­kaufen wir es teuerer. Fordern wir wenigstens zweimal soviel — Millionen Gold­gulden dafür!“

 

Die ganze Ratsversammlung stimmte ihm bei und rief begeistert:

 

„Bravo! Bravo! Unter sechzig Millionen* Goldgulden lassen wir es nicht.“

 

Da erhob sich ein zweiter Mann noch größer in der Ratsversammlung und sprach: „Laßt uns nicht sein wie zweitausend Judasse! Laßt uns unser nationales Heiligtum nicht in natura verkaufen. Wenn es so sein muß, so verkaufen wir es in effigie, in der Theorie, so daß es zwar titularisch verkauft, abalieniert und tot­gesagt sein kann, aber tatsächlich wohl und gesund in unseren Händen ver­bleiben und lange Jahre fortleben möge.“

 

Ein Beifallssturm erhob sich in der Ratsversammlung. Als derselbe sich legte, piepste eine verlegene Stimme:

 

„Ja, aber wie ist das zu machen?“

 

„Ganz einfach“, sprach gewaltig der zweite Redner. „Wir verkaufen nur das nackte, theoretische Recht — den Schnaps zu brennen und zu verkaufen. Die Brennereien und Verkaufsläden bleiben nach wie vor unser Eigentum. Wer uns hernach Konkurrenz machen will, möge es versuchen, wenn ihm die Haut juckt.“

 

„Bravo! Bravo!“ schrie einmütig die ganze Ratsversammlung.

 

Da erhob sich aber ein dritter Mann noch größer in der Ratsversammlung und sprach:

 

„Nach dem, was meine geehrten Vorredner gesprochen und vorgeschlagen haben und was wir bereitwillig angenommen haben, fühle ich mich, fühlen wir uns alle von dem Vorwurfe des Judassentums reingewaschen. Das ist ein sehr erheben­des und angenehmes Gefühl. Laßt uns aber jetzt vom Vergnügen zum Geschäfte übergehen. Was der geehrte Vorredner über die Möglichkeit einer Konkurrenz mit uns im Propinationsfache gesagt hat, dürfte manchen von uns mit einem Unbehagen, ja sogar mit Angst erfüllen. Nein, so meinen wir es nicht! Unser Heiligtum so zu verkaufen, daß sich hernach der erstbeste nach Belieben daran vergreifen kann — nein! Wenn wir es verkaufen müssen, so verkaufen wir es an uns selbst. So, daß wir zwar das Geld bekommen, dafür aber nicht die Realia behalten, sondern auch das Benützungsrecht ausschließlich in unseren Händen verbleibe. Erst eine solche Ablösung wird unseren Traditionen, unseren geheiligten Interessen und unseren Billigkeitsgefühlen entsprechen.“

 

Ein ungeheuerer Beifallssturm erhob sich in der Ratsversammlung. Der Redner wurde auf den Händen herumgetragen. Als man ihn wieder zu Boden setzte, piepste dieselbe verlegene Stimme zum zweiten Male:

 

„Ja, aber wie ist das zu machen“

 

„Ganz einfach“, sprach gewaltig der dritte Redner. „Wir verkaufen unser Propinationsrecht dem ganzen Lande.“

 

„Ja, aber — —“, wagte die oppositionelle Stimme noch einmal zu piepsen.

 

„Kein ,aber‘. Das Land kauft es und die Landesrepräsentation übernimmt das Gekaufte und verwaltet es. Wer ist aber die Landesrepräsentation?“

 

„Wir, wir!“ erscholl es einstimmig in der Ratsversammlung.

 

„Natürlich« beschloß der dritte Redner. „Die Propination bleibt in aller Form so, wie sie seit Anbeginn gewesen ist, nur daß sie jetzt kein Privat-, sondern Landeseigentum ist. Wir bekommen das Geld, behalten die Brennereien und die Schanklokale und behalten schließlich die Administration dieses neuen Landes­eigentums in den Händen. Wir können es unter uns verpachten, können einen uns Mißliebigen zur Pacht nicht zulassen, können schließlich auch die aus den Pacht­schillingen resultierenden Gelder ­— ­—“

 

Ein stürmischer Beifallsjubel übertönte die letzten Worte des gewaltigen Red­ners. Die Anträge wurden angenommen und punktualiter durchgeführt.

 

Ein vierter Tag ist bis jetzt in Galizien noch nicht angebrochen.

 

 

 

 

 

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* Κρυπτάδια — unter diesem Titel erschien in Paris eine Sammlung obszöner Erzählungen und Sagen aller Völker, darunter auch des ukr. Volkes

* In Wirklichkeit ist ein höherer Betrag, nämlich mehr als 66 Millionen Gulden, ausge­handelt worden.

 

 

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Erstveröffentlichung dieser Erzählung in deutscher Sprache in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“, Nr. 341 (13. April 1901), S. 17—18 (Signum: I. E.) u. d. T. „Die galizische Schöpfungsgeschichte. Ein politisches Märchen aus Galizien, wiedererzählt von ...“ (vgl. auch Dorošenko, Матеріяли I, Nr. 591); ihr schließt sich auch der vorliegende Text an. Im gleichen Jahr erschien sie auch in ukr. Sprache in Nr. 20 der Zeitung „Громадський голос“ mit der Überschrift „Галицька історія про сотворення світу“. Franko nahm die Erzählung 1906 u. d. T. „Із галицької ,Книги Битія' ‘ ‘ in überarbeiteter und erweiteter Fassung in die Sammlung „Місія. Чума. Казки і сатири“ (Ukrainisch-russische Verlags­gesellschaft, Lemberg 1906) mit dem Bemerken auf: „Оцей нарис, написаний в нагоди антиалкоголічного конгресу в Відні 1901 р. був надрукований по-німецьки в тиж­невику ,Die Zeit', № 341, під заг.,Die galizische Schöpfungsgeschichte ...' “ Der in Твори, Bd. 4, Kiew 1905, S. 380—83, wiedergegebene Text folgt der Vorlage in der Sammlung

 

 

30.09.1901