Der stramme Bezirkshauptmann

Ein Lebensbild aus Galizien

 

 

I

 

Es war einmal ein Bezirkshauptmann in Galizien, und der war stramm. Sie sind es zwar alle in diesem Lande, doch der Bezirkshauptmann Ritter v. Zamia­talski war es in einem ganz vorzüglichen Grade. Trotz seiner noch jungen Jahre — er war kaum 45 Jahre alt — wurde er nicht nur auf eine so hohe und verantwor­tungsvolle Stellung avanciert, sondern galt allgemein für ein Muster eines Bezirks­hauptmannes, gewissermaßen für den „kommenden Mann“, der bestimmt war, allen subversiven Elementen im Lande zu zeigen, „wo die Krebse überwintern“, was in der galizischen „einzigen Amtssprache“ als auch in der „zweiten Landes­sprache“ so ziemlich auf eines hinausläuft und dasselbe pädagogische Mittel bedeutet, welches anderwärts mit den schönen Worten „mit Spießruten und Skorpionen züchtigen“ ausgedrückt wird.

 

Da der Ruhm seiner administrativen Strammheit bald nach seinem Amts­antritte in erschreckender Weise um sich zu greifen begann, beschloß ich, in den betreffenden Bezirk einen Ausflug zu machen und die Segnungen der admini­strativen Strammheit auf mich persönlich einwirken zu lassen. Da ich mich rühmen konnte, ein alter Schulkamerad des Herrn Bezirkshauptmannes zu sein, so hoffte ich, sowohl von ihm selbst, als auch von seinen Untergebenen manches Wertvolle zur Klärung der inneren Politik zu erfahren.

 

Ich fuhr zuerst in ein entlegenes, zu dem Bezirke gehöriges Gebirgsdorf, wo, wie man hierzulande sagt, der Bär den Schlagbaum schließt, und begann mit aller Gemächlichkeit die Verhältnisse zu studieren. Kaum waren aber zwei Tage ver­flossen, als ein Gendarm im Dorfe erschien, geradeaus in meine Wohnung mar­schierte und mich mit strenger Miene fragte, ob ich einen Paß bei mir habe. Ich meinte, ich sei ja kein Ausländer und wies ihm verschiedene andere Papiere vor, welche die Identität meiner Person gehörig legitimierten. Nichts aber wollte dem strengen Auge des Gesetzes genügen, und er befahl mir, sofort mit ihm nach M., der Haupt- und Residenzstadt des Herrn Bezirkshauptmannes, zu marschieren. Es war ein ziemlich weiter und beschwerlicher Weg, mehr als 20 Kilometer über Berge, durch Wälder und Schluchten. In gerechter Befürchtung, daß ich in jenen unwegsamen Wüsteneien mehrere bewaffnete Komplizen haben könnte, welche zweifellos versuchen werden, mich dem Arme der Gerechtigkeit zu entreißen, zierte der Gendarm meine Handgelenke mit genau passenden Handschellen, und so ging ich, „hinter mir dunkel und vor mir klar“, guten Mutes vorwärts. Da ich auf Studien aus war, so war mir auch diese originelle Fußtour ein Studium.

 

Sobald wir aus dem Dorfe herausgekommen waren und das Aufrechterhalten der strengen Regierungsautorität im Angesicht der menschenleeren Felder und Wälder ganz gegenstandslos wurde, kam der Gendarm, welcher bisher mit seinem Gewehre und aufgepflanztem Bajonette mir knapp auf die Füße gefolgt war, an meine Seite und begann ganz gemütlich und menschlich zu sprechen. Er kenne mich ja ganz gut noch aus meinen Studentenjahren, sei mehrmals bei mir zu Hause gewesen und habe viele meiner Bücher gelesen. Er bitte mich daher um Verzeihung für die heutige Arretierung. Er wisse ja, daß ich nichts Böses im Dorfe getan habe, er habe ja die ganze Nacht herumspioniert und alle verhört, welche mit mir in Berührung gekommen waren, habe aber gar nichts Illegales über mich erfahren können. Er habe aber vom Herrn Bezirkshauptmann gemessene Order erhalten, mich auf jeden Fall zu verhaften und in Handschellen zu ihm zu führen.

 

Ich hatte mir vorgenommen, mich über nichts zu wundern, was mir in diesem Teile meines engeren Vaterlandes begegnen wird. Es wurde mir aber doch schwer, bei dieser Erzählung meines getreuen Eckarts diesem meinem Vorhaben nicht untreu zu werden. Desto begieriger war ich auf das persönliche Interview mit dem Herrn Bezirkshauptmann, dem ich nun entgegenging.

 

Sobald wir in das Weichbild der Stadt gekommen waren, ging der Gendarm vorschriftsmäßig mit streng amtlicher Miene hinter mir, und nachdem wir die Stadt passiert hatten, und ich mit meinem Schellenschmuck auf alle Vorüber­gehenden einen mehr oder weniger gemischten Eindruck hervorgebracht hatte, kamen wir in das Gebäude der Bezirkshauptmannschaft. Es war ein gewöhnliches, ebenerdiges, kleinstädtisches Wohnhaus mit einem geräumigen Hof, Stallungen, Scheuern und einem kranichversehenen Brunnen im Hintergrunde. Hühner und Enten tummelten sich im Hofe, und ein aufgeblasener, ewig zorniger und ewig kollernder Truthahn schien über alles zu dominieren und gleichsam ein Symbolum dieser ganzen Amtsstelle zu verkörpern. Im Vorhofe standen einige Dutzend Bauern in schäbigen Kleidern mit entblößten Häuptern. Ein Gendarm, welcher offenbar aus einer ähnlichen Mission wie der meinige zurückgekehrt war, lehnte auf der hölzernen Galerie und hatte seine „Frau“, das heißt sein Gewehr, gemüt­lich neben sich gestellt. Bei unserer Ankunft grüßten die beiden Gendarmen einander und murmelten einige mir unverständliche Worte. Die Bauern machten Spalier, und wir kamen in ein enges, ziemlich dunkles und schmutziges, derzeit ganz menschenleeres Vorzimmer. Der Gendarm nahm mir hier die Handschellen ab und küßte verstohlen meine beiden Hände an den Stellen, wo von dem Drucke des Eisens blaue Ringe auf gelaufen waren. Ich glaube sogar, daß er sich dieser Gelegenheit etwas von den Augen wischte, doch kann das auch eine Täuschung gewesen sein, denn schon im nächsten Augenblicke stand er ganz stramm auf­gerichtet und von mir abgewendet, brachte seine Montur in Ordnung, klopfte gemessen dreimal an die Tür des Bezirkssanktissimum und trat unaufgefordert hinein.

 

Ich blieb allein im Vorzimmer. Nachdem ich die üblichen zwei Stunden gewartet hatte, kam der Gendarm heraus und hieß mich eintreten. Er begleitete mich, hieß mich nahe bei der Schwelle stehenbleiben und stellte sich stumm und stramm in Positur neben mich. Der Herr Bezirkshauptmann saß bei seinem Amtstische am entgegengesetzten Ende des ziemlich geräumigen Zimmers und schrieb etwas. Er schien in eine sehr pressante Arbeit so vertieft zu sein, daß eseinige Minuten dauerte, ehe er sich davon losreißen konnte und uns sein Antlitz zuwendete. Noch immer den Rücken zu uns gewendet und ohne sich vom Platze zu erheben, rief oder brummte er:

 

„Kommen Sie näher!“

 

Ich und der Gendarm traten etliche Schritte näher.

 

„Wie heißen Sie?“ fragte der Herr Bezirkshauptmann, der sich unterdessen vom Sessel erhoben hatte und mich mit seinen Adleraugen von unten bis oben maß.

 

Ich antwortete auf seine Frage.

 

„Sie können gehen, Bordulak“, sprach er, sich an den Gendarmen wendend, „aber warten sie noch draußen.“

 

Der Gendarm salutierte stramm, machte ein stramm militärisches „Kehrt euch' ‘ und ging.

 

Der Herr Bezirkshauptmann kam einige Schritte entgegen. Sein Angesicht war ganz ruhig, nur die fest zusammengepreßten Lippen drückten die stramme Entschlossenheit aus.

 

„Sie, Herr“, sprach er zu mir mit einer Stimme, mit der man einem taubstummen Gaul hätte ins Gewissen reden können, „wie unterstehen Sie sich, in meinen Bezirk zu kommen und die Bauern aufzuwiegeln?“

 

Ich antwortete in aller Demut, daß ich niemanden aufgewiegelt, höchstens einige Wiegenlieder von Bauernfrauen aufgeschrieben habe.

 

„Herr, spaßen Sie nicht! Die Sache ist ernst. Ich habe eine ausführliche Relation über alles, was Sie getan und gesprochen haben.“

 

„Möchte mich sehr freuen, wenn die Relation wirklich so beschaffen wäre“, sprach ich, „dann würden auch Herr Bezirkshauptmann wohl wissen, daß ich nichts Gesetzwidriges getan habe.“

 

„Was also haben Sie getanf“

 

„Ich denke, es wird besser sein“, wagte ich ganz bescheiden einzuwenden, »wenn der Herr Hauptmann mich nur über jene Gesetzwidrigkeiten und Aufwiegelungen ausfragen, welche in Ihrer Relation stehen. Das übrige kann Ihnen ja ganz gleichgültig sein.“

 

„Nein, Herr! Nichts ist mir gleichgültig!“ antwortete noch immer barsch der Herr Bezirkshauptmann, der wohl wußte, daß in seiner Relation nichts der­gleichen stand.

 

Statt einer Antwort legte ich ihm mein Notizbuch vor, wo ich Volkslieder und bibliographische Exzerpte aus alten kirchenslawischen Drucken, welche ich in der Kirche jenes Dorfes gefunden hatte, aufzeichnete — natürlich mit ruthe­nischen und kirchenslawischen Lettern. Der Herr Bezirkshauptmann ergriff das Buch und begann darin zu blättern, doch sein Antlitz zeigte wieder die schwellende Zomesader.

 

„Was wollen Sie damit?“

 

„Ich meinte, da dem Herrn Bezirkshauptmann nichts gleichgültig ist -— —“

 

„Ja, aber was ist denn das?“

 

„Aufzeichnungen und Exzerpte, welche ich in Ihrem Bezirke gemacht habe. Es wird doch gewiß in Ihrer Relation etwas davon stehen.“

 

Der Herr Bezirkshauptmann blätterte noch einmal in dem Buche und wendete sich wieder enttäuscht davon ab.

 

„Ich kann diese mongolische Schrift nicht lesen. Erzählen Sie mir mündlich, wo und mit wem Sie gewesen sind, was Sie getan und gesprochen haben.“

 

„Tut mir leid, habe alles vergessen. Herr Bezirkshauptmann wissen es ja auch so besser.“

 

„Woher zum Teufel soll ich das wissen?“ schrie der Herr Bezirkshauptmann.

 

„Aus Ihrer ausführlichen Relation. Übrigens haben Herr Bezirkshauptmann mich ja verhaften und fesseln lassen.“

 

„Was? Fesseln!“ unterbrach mich der Bezirkshauptmann. „Ich hätte fesseln lassen? Wie unterstehen Sie sich — “

 

„Das werden wir schon später ausmachen. Ich dachte nur, da der Herr Bezirks­hauptmann dem Gendarm eine solche gemessene Order gegeben haben, so müssen Sie doch am besten wissen, was ich verbrochen habe. Ich wünsche nun über diese meine Verbrechen verhört oder gleich dem Gerichte überliefert zu werden.“

 

Der Herr Bezirkshauptmann wurde sehr aufgebracht und begann in sichtlicher Erregung im Zimmer hin und her zu laufen und Worte und Phrasen hervor­zustoßen, zusammenhanglos, verworren, man wußte nicht recht, ob es ein Monolog oder eine für mich bestimmte, aber in sehr allgemeinen Ausdrücken gehaltene oralpredigt war.

 

„Na! Sieh mal einer! Da haben wir ihn! Der superkluge Herr! Verhört will er werden und hat alles vergessen. Ins Gericht will er! Na ja, das Gericht entläuft uns nicht. Über Verbrechen! O ja, ich soll so dumm sein und es gleich bis zu Verbrechen kommen lassen. Das möchte Ihnen sehr erwünscht sein. Da möchte ich aber schön fahren! O nein, meine Herren! Ihr seid auf falscher Fährte. Ich werde nach Euerer Pfeife nicht tanzen. Ich begreife meine Stellung ganz anders, als Ihr es Euch träumen laßt. Ganz anders! Ich fühle mich verantwortlich, ver— ant—wort—lich, begreift Ihr das? Verantwortlich für Ruhe und Ordnung in meinem Bezirke. Und da kommt so ein hergelaufener Naseweis und untersteht sich, ohne meine Erlaubnis und ohne Kontrolle in den Dörfern umherzuschnüffeln, nächtliche Zusammenkünfte mit den Bauern zu halten!“

 

Und plötzlich hielt er  stille, trat dicht an mich heran und fragte rasch und streng: „Worüber haben Sie vorige  Nacht mit den Bauern im Pfarrhofe gesprochen?“ „Weiß nicht, Herr Bezirkshauptmann. Fragen Sie die Bauern!“

 

„Ja, wenn die Bestien etwas sagen wollten! Übrigens — natürlich — ich werde schon Mittel finden, alles zu erfahren.“

 

„Der Pfarrer ist auch dabeigewesen. Fragen Sie den Pfarrer.“

 

mir auch ein Rechter!“ schrie ärgerlich der Herr Bezirkshauptmann, wiegier, ein Störefried, ein unruhiger Kopf, ein . . . ein . . . ein Schisma­tiker von der schlimmsten Sorte.“

 

Und er begann wieder im Zimmer umherzulaufen, mit den Händen herum­zufuchteln und die Baumwolle seines Monologes wiederzukauen. Plötzlich hielt er wieder still und näherte sich mir — diesmal mit der Miene eines tiefbekümmerten tragischen Vaters.

 

„Aber ich bitte Sie, Herr Doktor! Sie sind doch ein verständiger Mensch, wie können Sie so unvorsichtig sein, so ... so ... so undelikat, ja, c’est le mot, un­delikat! Sie kennen ja meine verantwortungsvolle Stellung und fahren gerade hierher, um mir Ungelegenheiten zu machen. Gerade mir! Und warum? Wozu?“ Ich riß die  Augen auf und antwortete, daß ich an seine Stellung und an seine Verantwortung nicht im mindesten gedacht habe und nur dahin gereist bin, wo es für mich notwendig war.

 

„Notwendig!“ fuhr er halb zornig und halb traurig auf. „Das können Sie einem anderen sagen. Mich werden Sie doch nicht glauben machen, daß Sie wegen dieser Kritzeleien“ — und er hob verächtlich mein Notizbuch vom Tische auf, um es noch zweimal verächtlicher auf denselben hinzuwerfen — „wegen der dummen Volkslieder und alten Kirchenbücher einen so weiten und beschwerlichen Weg gemacht haben. Natürlich, Sie wollen mir die Wahrheit nicht gutwillig bekennen, machen mir ein X für ein U vor und lachen mich im Geiste aus, weil Sie doch wissen, daß die Kuckuckseier, die Sie mir ins Nest gelegt haben, doch ausgebrütet werden. 0 ja, das ist so schön, so edel von Ihnen!“

 

Seine Stimme war vom Stentorton bis zum weinerlichen Geplauder gesunken. Rührung begann sichtlich seine Seele zu übermannen. Eine plötzliche Erleuchtung schien in seinem Hirn aufzuflackern. Er streckte mir seine biedere Rechte ent­gegen und rief fast erfreut:

 

„Wir sind ja alte Bekannte, Doktor! Schulkameraden, ach! Na, setz dich doch, altes Haus! Vielleicht eine Zigarre beliebig? Ach ja, versuchst nicht — weiß schon, weiß schon! Aus Prinzip! Ha, ha, ha! Ist dein erstes Prinzip gewesen. Dann sind andere gekommen, daß sich Gott erbarm’!“

 

Er saß mir gegenüber an seinem Amtstische und wackelte mitleidig mit dem Kopfe.

 

„Ach, Ivan, Ivan, was ist aus dir geworden! Mit deinem Talent, mit deinem Fleiße, mit deinen Kenntnissen, was hätte aus dir werden können, wenn nicht diese verfluchten Prinzipien wären! Aber ja, du warst immer ein Querkopf, immer anders als die übrigen, und so mußte es auch kommen, wie es gekommen ist. Ich hoffe noch — und glaube mir, es waren noch ganz, ganz andere, welche das gehofft haben —, daß du dich doch bessern, beruhigen wirst, daß du in gehörige Bahnen einlenkst. Aber — sage mir selbst — wie soll man da nicht die Hoffnung verlieren, wenn man deinem Treiben Zusehen muß!“ Er schwieg. Einige Augen­blicke herrschte eine so tiefe Stille im Zimmer und im ganzen Gebäude, daß man ganz gut hören konnte, wie der Truthahn draußen im Hof grimmig kollerte.

 

Plötzlich fuhr der Herr Bezirkshauptmann jäh empor und machte eine besorgte Miene.

 

„Aber, mein Lieber, du wirst ja hungrig sein. Ich möchte dich zu meiner Mahlzeit einladen, aber . . .“

 

Ich dankte ihm und fügte hinzu, ich werde lieber in der Stadt speisen, da es ja höchst wahrscheinlich sei, daß ich auf freien Fuß gesetzt werde, weil der Herr Bezirkshauptmann es doch am besten wisse, daß ich ganz unschuldig bin.

 

„O mein Lieber!“ sprach der Herr Bezirkshauptmann mit einem herzlichen Lachen, „da irrst du dich gewaltig. Unschuldig! Du unschuldig? Du hist ja schon dadurch schuldig, daß du überhaupt existierst. Und dazu noch hier, in meinem Bezirk. Weißt du, ich kann dir das nicht verzeihen. Es war wirklich nicht schön von dir, mir, deinem alten Schulkameraden, das anzutun. Und warum? Einzig und allein aus raffinierter Bosheit, um mir in der Statthalterei Unannehmlich­keiten zu bereiten, um meine Stellung zu untergraben, Na, bekenne nur offen, ist das nicht wahr?“

 

Und er klopfte mich auf die Schulter und drückt mich wie verliebt an seine Brust.

 

„Also bin ich verhaftet?“ fragte ich.

 

„Verhaftet!“ rief er wie entsetzt aus, „was dir nicht einfällt! Ich dich verhaften! Meinen alten Schulkameraden verhaften, der mir so oft die Hausaufgaben gemacht hat! Der mir bei der Maturitätsprüfung geholfen hat! Nein, keinen Augenblick warst du verhaftet und bist es auch nicht.“

 

„Also kann ich Weggehen?“

 

„Weggehen? Wohin?“

 

„In die Stadt. Ich hätte hier noch manches auszurichten.“

 

„Ach was! In so einem elenden Nest hättest du etwas auszurichten! Nein, nein, ich lasse dich nicht los. Ich bin froh so, einmal mit einem verständigen Menschen und dazu noch altem Kameraden plaudern zu können. Und dann — denkst du ja gewiß noch heute nach Lemberg zu reisen, nicht wahr?“

 

Ich sagte, es wäre bei mir noch nicht ganz so gewiß, ich hätte darüber noch nicht gedacht.

 

„Ja, ja, du reisest nach Lemberg“, sagte er mit einer eigentümlichen, halb bittenden, halb divinatorischen Betonung. „Und weißt du was? Wir haben ja von hier volle sechs Meilen zu der nächsten Bahnstation. Ein schönes Nest, nicht wahr? Also, was ich dir sagen wollte — ja! Ich gebe dir meine eigene Equipage, sie wird dich in drei Stunden zur Station bringen. Hast also noch eine ganze Stunde Zeit und bleibst bei mir. Ausgemacht, ausgemacht. Du darfst nicht wider­sprechen!“

 

Ein dreimaliges Klopfen erscholl an der Tür.

 

„Was ist das?“ murmelte der Bezirkshauptmann und blickte auf die Uhr. „Aha, es ist gewiß der Gemeindevorsteher aus K.!“

 

Und sich zu mir wendend, sprach er mit nicht geringem Stolze:

 

„Sieh nur zu, mein Lieber, du sollst jetzt in einige Arkana meiner inneren eingeweiht werden. Ich hoffe, daß du das im Vertrauen behältst — übrigens, wie es dir gefällt, denn ich weiß, was ich tue. Also fürs erste sollst du einen Beweis haben, welche Pünktlichkeit im Dienste bei mir herrscht. Du hast ja gehört, daß eben an der Tür geklopft wurde. Sieh nur, es ist gerade zwölf Uhr, und für diese Stunde habe ich vor einer Woche den Gemeindevorsteher aus K. zu mir bestellt, damit er mir Rapport gebe, wie die gestrigen Gemeindewahlen in seiner Gemeinde ausgefallen sind. Laß sehen, ob er es ist.“

 

Das Klopfen erscholl zum zweitenmal, und auf den Ruf des Herrn Bezirks­hauptmannes erschien richtig der betreffende Gemeindevorsteher und blieb nahe bei der Schwelle stehen, nachdem er einen tiefen Bückling gemacht hatte.

 

„Nun“? herrschte ihn der Herr Bezirkshauptmann an. Der Bauer schwieg und machte einen zweiten, noch tieferen Bückling. Der Herr Bezirkshauptmann erhob sich von seinem Sitz und näherte sich dem Bauer.

 

„Nun, wie ist es ausgefallen?“ donnerte der Herr Bezirkshauptmann.

 

„Die Partei vom Leseverein hat gesiegt.“

 

In diesem Augenblicke blitzte es zweimal im Zimmer. Es war der Brillant am Ringe des Herrn Bezirkshauptmannes, welcher im Sonnenlicht blitzte bei der zweimaligen heftigen Bewegung seiner Rechten. Und gleichzeitig erfolgte eine zweimalige starke Detonation. Es waren zwei schallende Ohrfeigen, welche der Herr Bezirkshauptmann auf die beiden Gesichtshälften des Gemeindevorstehers herabfallen ließ.

 

„Du Schuft! Da hast du! Und gleich marsch und mache einen Protest gegen diese Wahl!“

 

„Ist schon gemacht, Herr Bezirkshauptmann“, sagte der Bauer, welcher die Ohrfeigen als etwas ganz Ordnungsmäßiges und von der Amtswürde Unzertrenn­liches hingenommen hatte.

 

„Schon gemacht? Wo ist er?“

 

Der Bauer wickelte aus einem großen Tuche, welches er aus seiner Dachsleder­tasche hervorgenommen hatte, erst ein großes Paket, aus demselben ein kleines Buch heraus und holte aus demselben einen beschriebenen Bogen Papier hervor, den er dem Herrn Bezirkshauptmann mit einem tiefen Bückling ein. händigte.

 

Der gestrenge Herr überflog das Papier mit seinem Adlerblicke, legte es regel­recht zusammen und sagte:

 

,,Es ist gut. Du kannst gehen.“

 

Und der Bauer ging, einen horizontalen Halbkreis mit seinem Oberkörper be­schreibend, zur Tür hinaus.

 

„Siehst du, mein Lieber, das ist meine Bauernschule“, sagte der Herr Bezirks­hauptmann zu mir mit einer wahren Triumphmiene. „So muß mit diesem Volk verfahren werden. Ich weiß, du wirst mir gleich mit deinen Prinzipien dreinreden, aber ich sage dir, es ist alles Unsinn. Das Leben ist ein praktischer Lehrmeister, und die Stellung eines Bezirkshauptmannes ist nicht weniger schwierig, nicht weniger verantwortungsvoll als die eines Kommandanten im Kriege. Ruhe und Ordnung muß um jeden Preis erhalten werden!“

 

„Ich dachte, daß auch Gesetze dabei beachtet werden müssen“, wendete ich ein.

 

„Ach was, Gesetze!“ fuhr es dem Herrn Bezirkshauptmann aus dem Munde, dann machte er aber eine Miene wie einer, der Pfefferkörner zerbeißt und sprach:

 

„Na ja, natürlich! Gesetze! Aber es ist ja dasselbe, was ich gesagt habe. Ruhe und Ordnung — Gesetze und Propheten stecken ja drin. Denn was ist Ruhe und Ordnung? Daß mir die Gendarmen nichts besonderes zu rapportieren haben, daß ich sie nicht bei Nacht und Nebel aufs Spionieren hinaussschicken muß, daß man mir niemanden in Handschellen herbeiführt, daß ich keine Protokolle schreiben, keine Arreststrafen verhängen, keine Ohrfeigen austeilen muß. Denkst du, daß mir alles das eine besondere Freude macht? Du kannst das ja an dir selbst sehen. Ich liebe dich ja und habe eine große Hochachtung für dich! Warum brauch­test du aber gerade in meinen Bezirk zu kommen und hast gar nicht daran ge­dacht, daß ich das nicht zulassen kann! Gesetz hin und Gesetz her, aber ich kann nicht, das mußt du dir ein für allemal gesagt sein lassen.“ .

 

Es lag so viel wahre Menschenliebe und kindliche Harmlosigkeit in diesen Worten, daß ich ihm nicht ernstlich böse sein konnte. Wer weiß, wäre ich er und an seiner Stelle, ob ich nicht auch so gehandelt und gedacht hätte wie er!

 

„Es scheint mir aber doch“, sagte ich, „daß Ruhe und Ordnung nicht ganz dasselbe sind wie Gesetzmäßigkeit. Nehmen wir gleich den nächstvergangenen Fall. Im Dorfe K. regiert dieser Gemeindevorsteher mit einer kleinen Clique reicherer Bauern ganz absolut. Sie verpachten Gemeindegründe, verwüsten den Gemeindewald, bestehlen die Gemeindekasse, verwenden Gemeindegelder für ihre privaten Spekulationen und legen den übrigen Gemeindemitgliedern solche Steuerzuschläge auf, wie es ihnen gefällt. Ist das Ruhe und Ordnung?“

 

„Verzeihe, mein Lieber, ich kann es nicht zulassen, daß du über eine unbe­scholtene Autonomiebehörde so sprichst! Alles, was du soeben gesagt hast, ist nicht wahr, kann nicht wahr sein. Der Bezirkslustrator hat alle diese sinnlosen Beschwerden untersucht und ihre Unwahrheit protokollarisch konstatiert. Das ist Ordnung und dabei muß ich Ruhe haben.“

 

„Auch wenn der Lustrator diese amtliche Reinwaschung gegen ein schönes Handgeld vollzogen hat?“ fragte ich.

 

„Wieder eine Insinuation, die du nicht beweisen kannst! Übrigens, was geht mich der Lustrator an! Er ist nicht mein Untergebener, und ich hafte nicht für seine Ehrlichkeit.“

 

„Ich beginne schon zu begreifen“, sagte ich, „eines nur ist mir noch ein wenig unklar. Herr Bezirkshauptmann haben selbst gesagt, daß gegen den Gemeinde­vorstand von K. Klagen vorgebracht worden waren und der Lustrator ins Dorf geschickt werden mußte. Sein amtlicher Bericht hat die Sache ganz in Ordnung gebracht. Nun möchte ich wissen, ob Herr Bezirkshauptmann selbst persönlich von der Wahrheit dieses Berichtes überzeugt sind?“

 

„Ich? Persönlich?“ fragte verwundert der Bezirkshauptmann. „Nun, persönlich — aber was geht dich eigentlich meine persönliche Meinung an?“

 

„Herr Bezirkshauptmann haben ja gewissermaßen Partei ergriffen in dem Streite, welcher in jenem Dorfe zwischen der Ausbeuterclique und einer Gruppe jüngerer, mehr gebildeter Bauern, der sogenannten ,Lesevereinspartei', geführt wird.“

 

„Ach, sprich mir nicht von diesen verdammten Burschen! Lauter Grobiane, Wilddiebe und verdrehte Köpfe. Radikale nennen sie sich. Na ja, deine Schule, mein Lieber! Ja, freilich, deine Schule! Aber ich sage dir, du darfst gar nicht stolz, sein auf sie. Es sind ganz gemeine Menschen, welche nur deswegen Opposition spielen, weil sie vor Neid bersten, daß nicht sie, sondern die Alten im Dorfe regieren.“ „Ihre Seelen und ihre Beweggründe kenne ich nicht. Ich weiß nur, daß sie solche elementare Sachen fordern wie Abrechnung der Gemeindekasse, öffentliche Lizitationen der Gemeindegründe usw. Deswegen hat sich der größte Teil der Dorfbewohner ihnen angeschlossen, und diese Mehrheit hat auch bei den Wahlen gesiegt. Ich fürchte, wenn jetzt diese Wahl annulliert wird, daß es im Dorfe zu ernsten Unruhen kommen kann.“

 

„Ha, ha, ha!“ lachte der Herr Bezirkshauptmann laut auf. „Unruhen, sagst du! Verzeih, aber ich muß lachen! Ha, ha, ha! Bei mir Unruhen! In meinem Bezirke — ernste Unruhen! Na, da kennst du die Bauern gar nicht. Hab keine Furcht, mein Lieber. Ich bin noch Herr genug über sie, daß sie nach meiner Pfeife tanzen müssen und nicht ich nach ihrer. Die Wahl wird kassiert, das ist so sicher wie Amen im Paternoster, und der bisherige Gemeindevorsteher muß wiedergewählt werden.“

 

„Welchen Zweck kann aber eine solche Politik haben?“ fragte ich verwundert,

 

„Ich sage ,Politik', weil mir die Bauern gleich im ersten Gespräch ein ganzes Dutzend Dörfer namhaft machten, wo, wie sie sagten, notorische Diebe, Schwind­ler, Gewalttäter als Gemeindevorsteher fungieren und von den Behörden sicht­lich protegiert werden.“

 

„Es ist nicht wahr, mein Lieber. Einfach nicht wahr. Notorische Diebe! Welcher von ihnen wurde je des Diebstahles oder der Veruntreuung überwiesen? Und wenn ich keine Beweise in der Hand habe, wie darf ich solche Männer beleidigen? Und übrigens — wie denkst du, mein Lieber —, würde sich einer von diesen deinen Radikalen eine solche Behandlung gefallen lassen, wie ich sie heute dem K.er Gemeindevorsteher habe angedeihen lassen?“

 

„Gewiß nicht.“

 

„Aha! Da hast du’s! Da siehst du! Du wirst also begreifen, daß ich im Inter­esse der Ruhe und Ordnung besorgt sein muß, solche Leute zu meinen Werkzeu­gen zu wählen und zu erhalten, welche mir am besten an die Hand gehen. Darum bin ich da und dafür bin ich verantwortlich.“

 

Das Gespräch drohte zuletzt noch ganz interessant zu werden, plötzlich aber Blickte der Herr Bezirkshauptmann auf die Uhr und sprach:

 

„Ja, mein Lieber, aber es ist schon Zeit, daß du aufbrichst.“

 

Er läutete. Gendarm Bordulak erschien.

 

„Gehen Sie zum Fuhrmann in den Stall und sagen Sie ihm, er soll gleich an­spannen. Er wird den Herrn da zur Bahn fahren. Und Sie fahren auch mit, be­gleiten den Herrn, aber außerdienstlich, verstehen Sie?“

 

„Jawohl, Herr Bezirkshauptmann.“

 

Und als der Gendarm weggegangen war, sprach der Bezirkshauptmann zu mir mit bittersüßer Miene;

 

„Natürlich, du wirst gewiß diese ganze Affäre in Zeitschriften breittreten und dich über Unrecht beklagen...“

 

„Gewiß.“

 

„Na ja, ich wußte es! Kannst es tun, mein Lieber, kannst es tun. Mir wirst du damit nicht schaden.“

 

„Ist mir auch gleichgültig.“

 

„Na, und dir selbst!... Wird dir damit etwas geholfen? Was geschehen ist, das kann dir ja niemand wegnehmen.“

 

„Vielleicht wird es für die Zukunft etwas helfen.“

 

„Für die Zukunft? Na, du kannst sicher sein, solange ich hier Herr und Kom­mandant bin im Bezirke, solange darfst weder du noch irgendeiner von deines­gleichen diesen Boden ungehindert betreten. Ich werde mich gegen euch wehren wie gegen eine Pest und werde schon Mittel finden... Und verantworten werd’ ich’s auch, dessen kannst du sicher sein. Und was dich selbst anbelangt“ — hier wurde er ganz vertraulich und drückte mich an seine Brust —, „ich möchte dir herzlich raten, mein Lieber, laß die ganze heutige Affäre in den Brunnen der Ver­gessenheit fallen. Wer weiß, es werden vielleicht Fälle kommen in deinem Leben, wo es dir helfen kann, wo es dir wohltun wird, wenn es dir angerechnet werden wird. Ich wiederhole dir, mir wirst du nicht schaden, wenn du aber schweigst, so wird es dir an sehr, sehr hoher Stelle zugut’ geschrieben werden. Denn wisse“ — hier ging seine Rede in ein geheimnisvolles Flüstern über —, „das, was dir heute widerfuhr, es ist nicht mein eigener Wille, sondern... Na, genug, der Rest ist Amtsgeheimnis.“

 

Als ich in Begleitung des Gendarms in den Hof hinabkam und den prächtigen gedeckten Wagen des Herrn Bezirkshauptmannes bestieg und derselbe sich lang­sam in Bewegung setzte, kollerte der aufgeblasene Truthahn in einem fort recht grimmig, scharrte den Boden mit den Flügeln und bildete sich offenbar ein, nicht nur den ganzen Hof, sondern auch die ganze Stadt und den ganzen Bezirk zu beherrschen und unter der Zuchtrute seines Grimms zu halten.

 

II

 

Es waren zwei Jahre verflossen seit dieser meiner Studienreise. Eine Landtagswahl hatte unterdessen das Land heimgesucht, und die Leute begannen sich schon von ihren verheerenden Wirkungen einigermaßen zu erholen, als ich eines Tages auf dem Mariacki-Platze in Lemberg dem Herrn Bezirkshauptmanne Zamiatalski begegnete. Es war ein schöner, aber kalter Wintertag und er ging, in einen Käng­uruhpelz gehüllt, etwas gebeugt, aber doch geschäftig trippelnd einher. Er erkannte mich auf den ersten Blick und streckte mir seine Hand entgegen.

 

„Na, wie geht’s, Brausekopf? Gesund? Immer in Stimmung? Immer bei Appetit, wenigstens einen Ausbeuter täglich zu verspeisen? Ha, ha, ha! Freut mich sehr, dich wiederzusehen!“

 

Ich fragte ihn, was er in Lemberg mache und wie es ihm auf seinem verant­wortungsvollen Posten gehe.

 

„Was!“ schrie er und hielt stille, ,,du weißt also nicht, daß ich stabil in Lemberg wohne und daß jener Posten schon seit zwei Monaten von einem anderen verwaltet wird?“

 

Zu meiner Beschämung wußte ich nichts davon und fragte ihn um Aufklärung.

 

„Ah, es ist eine lange Geschichte, obwohl es mich sehr wundert, daß du so rein gar nichts davon erfahren hast.“

 

Ich entschuldigte mich mit einem längeren Fernsein von Galizien.

 

„Na, weißt du, das ist eine interessante Geschichte und die sollst du erfahren. Du bist ja auch ein Stück von einem Dichter, und da kann dir meine Geschichte vielleicht zustatten kommen. Ein Beitrag zur Menschenkenntnis, mein Lieber, wie nur wir, politische Beamte, solche zu sammeln imstande sind. Und dazu noch ein Beitrag zur Geschichte der menschlichen Bosheit! Ein klassischer, das wirst du sehen. Aber was plaudern wir so auf der Gasse bei dieser grimmigen Kälte? Komm nur mit auf einen Augenblick! Der Wojciechowslci* hat heute Kaldaunen — meine Passion! Weißt, ich habe dich damals hungrig von mir gelassen, also will ich mich heute revanchieren. Komm! Bei einem Glas Bier erzählt sich’s besser.“

 

Bald saßen wir in einem warmen, wenn auch engen, kahlen und ziemlich dunklen Separatzimmer und ließen uns das warme Frühstück und das Löwenbräu schmek­ken. Der Herr Bezirkshauptmann zeigte einen vortrefflichen Appetit, und erst nachdem er zwei Teller Kaldaunen zu sich genommen hatte, legte er mit seiner Erzählung los.

 

„Was ich dir sagen wollte, mein Lieber ... Ja, die Landtagswahlen. Gottes Fluch soll über sie kommen! Du kannst dir gar nicht denken, was das für eine Plackerei für unsereinen ist! Und welche Verantwortlichkeit! Mir graut’s, wenn ich nur daran denke. Und nun die Intrigen, die Einflüsterungen von verschiedenen Seiten, die Verdächtigungen und Anklagen! Ein Pfuhl, sage ich dir. Und über alledem muß der Bezirkshauptmann schweben wie der Geist Gottes über den Was­sern. Und wenn man ihm wenigstens von oben her seine Aufgabe leichter machte! Aber man begnügt sich damit, ihm außerordentliche Vollmachten zu geben, ihn sozusagen zum Herrn über Leben und Tod zu machen und denkt sich: Jetzt mag er sich aus der Affäre ziehen, wie er’s versteht. Oder man führt ihn noch obendrein in Versuchung. Niederträchtig, sag’ ich dir!“

 

Diese allgemeinen Expektorationen wirkten nicht ermutigend auf mich. Ich fand sie ein wenig dunkel.

 

„Gleich, gleich wird es hell, mein Lieber“, entgegnete er hastig. „Du wirst sehen, daß ich nichts Überflüssiges plausche. Da du aber von der ganzen Geschichte nichts zu wissen scheinst, so muß ich sie dir ab ovo erzählen.

 

Also, der Anfang der Geschichte war, daß wir zur bevorstehenden Landtags­wahl drei Kandidaten hatten. Der Bezirk, wie du weißt, ist stockruthenisch und deshalb wurde von seiten der Regierung in erster Linie auf einen polnischen Kandi­daten reflektiert. Ein solcher Kandidat erstand uns in der Person eines Ritters von Ciapcialapski, welcher auch bald nach Erlegung einer Summe von 3000 Gulden die Bestätigung seiner Kandidatur beim polnischen Zentralwahlkomitee erlangte. Ein stockdummer Kerl, sag’ ich dir! Von einer Ignoranz in politischen und allen übrigen Dingen, die nur von seiner Aufgeblasenheit übertroffen wurde. Aber trotzdem ein lieber Gesellschafter, besonders in Damengesellschaft, ein guter Tänzer und ein guter Tarokspieler. Seine Vermögensumstände waren, versteht sich, so ziemlich zerrüttet, das Landtagsmandat sollte ihm — ich weiß schon nicht mehr, auf welche Art — auf die Beine helfen.

 

Natürlich gab es im ruthenischen Lager zwei Kandidaten, welche in ihren Kan­didatenreden mit aller Gewalt auf den polnischen Regierungskandidaten los­schlugen, sich sehr volkstümlich, sehr fortschrittlich, sehr nationalruthenisch gebärdeten, obwohl sie vor ihrem Hervortreten als Kandidaten beide (nicht gleichzeitig!) bei mir waren und sich mir als ruhigste, loyalste und regierungs­freundlichste Männer vorstellten. Der eine war ein alter Landgeistlicher, ein Mann, welcher sich sein Leben lang um keine Politik kümmerte, nur seinen Meßbüchern und dem vollen Dutzend seiner Kinder sein Leben gewidmet zu haben schien, außer einem Kalender jahraus jahrein kein Buch las und sich deswegen als ein treuer und unerschütterlicher Anhänger der altruthenischen Partei bekannte. Im übrigen ein lieber, gastfreundlicher Herr, ein unverwüstlicher Plauderer, ein vortrefflicher Kartenspieler und passionierter Jäger. Dieser Mann schien mir wie geschaffen für einen ruthenischen Landtagsabgeordneten.

 

Nun bringt mir das Unglück noch einen dritten Kandidaten, gleichfalls einen Ruthenen. Seine bevorstehende Kandidatur wurde in Zeitungen angesagt. Ich kannte ihn schon. Ein großer ruthenischer Patriot, ein Gymnasialprofessor, ein Politiker von Fach, ein Schriftsteller und Journalist, mit einem Worte: eine Leuchte der ruthenischen Nation. Ein Jungruthene, versteht sich. Ein Demokrat, ein Oppositioneller, ein pfiffiger Kopf. Na, denk’ ich bei mir, als ich von seiner Kandidatur hörte, du wirst platzen, ehe du in meinem Bezirke ein Mandat kriegst! Ich Ärmster, ich wußte nicht, daß ich selbst dem Platzen weit näher war als er.

 

Da erscheint eines Tages dieser Herr Kandidat aus Lemberg bei mir. Stellt sich mir vor. Wir plaudern über dies und jenes. Auch über Politik. Der Mann entwickelte ganz gesunde Ansichten. Auf einmal platzt er heraus: ,Ich komme, mich Ihnen als Regierungskandidat vorzustellen. Bitte, lesen Sie dies.' Und er übergab mir ein Schreiben von einer sehr sehr hochgestellten, autoritativen Persönlichkeit. Ich las, obstupui, verbeugte mich und versprach meine Pflicht zu tun.

 

Ich fuhr mit dem neuen Kandidaten im Bezirke herum. Wir beriefen Wähler­versammlungen ein, und er stellte sich seinen Wählern vor. Er sprach. Ich sage dir — schrecklich! Grauenerregend! Wahre Brandreden von Elend und Not und Vergewaltigung und Druck! So etwas hatte ich noch in meinem Leben nicht gehört. Du hättest gewiß nicht aufrührerischer sprechen können. Und so etwas wagte dieser Unmensch in meinem Bezirke auszuposaunen, mir sozusagen persönlich unter die Nase zu reiben. Und ich mußte zuhören und durfte nicht mucksen!

 

In jenem autoritären Schreiben wurde mir ausdrücklich und im Namen eines noch Höhergestellten — du verstehst mich wohl, wen ich meine! —befohlen, ja befohlen, dem Treiben des Herrn Kandidaten ein wachsames Auge zuzuwenden, demselben aber in keinem Falle Hindernisse in den Weg zu legen. Und dann sollte ich nach Lemberg kommen und hohen Orts einen getreulichen Bericht abstatten.

 

Ich fuhr nach Lemberg. Natürlich hatte ich in meinem Berichte meiner Indi­gnation über diesen Kandidaten einen flammenden Ausdruck gegeben. Denke dir aber mein Entsetzen, als hohen Orts dabei nur geläehelt und wohlwollend mit dem Kopfe genickt und gesagt wurde: ,Schön! Schön! Der Pfiffikus hat seine Rolle brav gespielt. Also, wohlverstanden, seine Kandidatur steht fest. Den Schlach­tschitzen müssen Sie auf eine bessere Gelegenheit vertrösten und zum Rücktritte bewegen und den Popen —  '

 

,Der wird beim ersten Wink auch zurücktreten', wagte ich einzuschalten. Ich wurde dafür mit strengem Blicke von oben bis unten gemessen wie einer, welcher einen Irrtum im ABC gemacht hat.

 

,Plauschen Sie keine Dummheiten! Der Pope muß kandidieren und schmäh­liсh fallen, damit die Schwäche seiner Partei kundgetan werde. Verstanden?'

 

Du kannst dir denken, mein Lieber, daß ich von dieser Audienz ganz zermalmt, ganz in Schweiß gebadet herauskam. Ich fühlte meinen Stern erbleichen.

 

Ich ging zu einem mir befreundeten hohen Beamten in der nächsten Kanzlei, um ihm mein Herz auszuschütten. Er fragte mich sehr teilnahmsvoll über die Details meiner Audienz, über die politische Situation in meinem Bezirke, über die Stimmung der Bevölkerung u. dgl. aus. Ich setzte ihm auseinander, wie gefährlich es sei, einen solchen Wolf wie diesen jungruthenischen Kandidaten in meine ruhige Hürde hereinzulassen. Er stimmte mir bei und versprach mir, alles mög­liche zu tun, um diese Kandidatur zu hintertreiben. Ich atmete auf, Mein Freund war eine vielvermögende Persönlichkeit, gleichsam ein alter ego des Hoch­gestellten, und pflegte die delikaten Sachen auf sich zu nehmen, wenn es dem Hochgestellten nicht behagte, sie auf sein Kerbholz zu nehmen.

 

Ich reiste getrost auf meinen Posten. Der Wahltag nahte. Mit dem Schlach­tschitzen wurde ich bald fertig: Ich half ihm in der „Florianka“*, eine Hypotheken­anleihe auf seine Güter zu erlangen, und die wurden bei dieser Gelegenheit so taxiert, daß der Schlachtschitze sehr froh gewesen wäre, wenn er beim Verkauf so viel Geld hätte herausschlagen können, als er jetzt geliehen bekam.

 

Es blieben nun die beiden Ruthenen, und ich hatte mein liebes Kreuz mit ihnen. Bald kam der eine, bald der andere zu mir, um den Gegenkandidaten anzu­schwärzen und um die ausschließliche Protektion der hohen Regierung zu bitten. Das hättest du sehen sollen! Ich sage dir, es war ekelhaft. Der Pope brachte mir ein Zertifikat vom Metropoliten, der Professor ein vertrauliches Schreiben von einem anderen Würdenträger. Der Pope sagte dem Professor nach, er sei ein Trunkenbold und ein Atheist, der Professor brauchte dem Popen nichts nachzu­sagen, denn ich kannte ihn selbst gut. Aus Lemberg aber kam nichts, keine neue Instruktion. Erst zwei Tage vor der Wahl kam ein lakonisches Telegramm: ,Bis auf weiteres alles beim alten.'

 

Ich hatte natürlich meine Anstalten schon von langer Hand getroffen und war ruhig. Noch ein Tag verging. Im Bezirke kochte es wie in einem Kessel. Versammlungen wurden abgehalten, beide Kandidaten bewarfen sich und ihre Parteien mit Kot, die Zeitungen erwogen die Chancen des einen und des anderen, es regnete von Korrespondenzen, Invektiven, Interpellationen und Berichtigungen, die Aufregung wuchs ins Ungeheuere.

 

Plötzlich, schon nach Kanzleischluß, also am Vorabende des Wahltages, kommt eine chiffrierte Depesche aus Lemberg. Ich ergreife sie mit zitternder Hand, öffne das Kuvert und lese:

 

,Bei der morgigen Wahl müssen beide ruthenische Kandidaten schmählich fallen und Sie selbst müssen zum Abgeordneten gewählt werden.'

 

Darunter stand die Unterschrift meines hochgestellten Freundes.

 

Kannst dir denken, wie mir zumute wurde. An der Echtheit des Befehls war nicht zu zweifeln — ich kannte den Stil derartiger Befehle nur zu wohl und in diesem speziell schien mir ein tiefer politischer Sinn zu liegen. Den Schwerpunkt des Befehls sah ich ganz anderswo. Es war ja schon Abend, morgen sollte die Wahl stattfinden, und zwar in drei ziemlich weit voneinander entfernten Markt­flecken. Der Befehl kam spät, und doch wurde von mir ein glänzender Sieg ge­fordert. Man wollte offenbar eine Probe meiner politischen Findigkeit und meiner administrativen Strammheit sehen. Ich fühlte es: Man stellte mich vor eine schwierige Aufgabe, um zu sehen, ob ich für noch schwierigere fähig sei. Meine Zukunft stand auf dem Spiele. Ich stand da wie ein feuriges Roß vor der Barriere. Der Mut blähte meine Nüstern.

 

Einen Entschluß fassen, einen Plan entwerfen und Mittel zu dessen Ausführung bestimmen: das alles war für mich das Werk weniger Augenblicke. Ich wollte zeigen, was ich vermag und wie weit sich meine Macht erstreckte. Noch in der- selben Nacht sprengten berittene Boten nach allen Richtungen, der Telegraf summte, die Juden frohlockten, alles wurde in Bewegung gesetzt.

 

Am anderen Tage wurde ich in allen dreien Wahlorten mit erdrückender Majorität zum Landtagsabgeordneten gewählt.

 

Der Eindruck, den dieser Wahlausgang machte! Nein, wer es nicht erlebt, nicht gesehen hat, dem ist er nicht zu schildern, Denke dir, im ersten Augenblicke Erstarrung, dann homerisches Gelächter, dann vereinzelte Wutausbrüche und Verzweiflungsrufe und dann...“

 

Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand, erfrischte seine Gurgel mit einer frischen Halbe und fuhr dann ruhiger fort:

 

„Was die Kandidaten dazu sagten! Na, der Pope zuckte nur mit den Achseln und verkroch sich, ohne ein Wort zu sagen. Der Professor aber fiel wie eine Bombe in meine Kanzlei hinein.

 

,Herr Bezirkshauptmann', keuchte er mit kaum verhaltener Wut, ,was soll denn das bedeuten?'

 

Ich zeigte ihm schweigend das Telegramm. Er wurde erdfahl im Gesichte, verneigte sich und ging, um unversäumt nach Lemberg zu fahren. Ich atmete . auf. Ich war auf schlimmere Szenen mit diesem Menschen gefaßt.

 

Wie ich nun gemütlich hinter meinem Tische sitze und eine ausführliche Relation über die Wahl verfasse, bringt man mir ein dringendes Telegramm aus Lemberg. Ich öffne es und erstarre. Dort stand zu lesen:

 

,Unglücksmensch, was haben Sie angerichtet?'

 

Und die Unterschrift von dem Hochgestellten selbst.

 

Ich begann schon das Unheil zu ahnen, doch ich faßte mich und schickte um­gehend eine Depesche, wo ich das gestrige Telegramm wortwörtlich reproduzierte. Nach zwei Stunden empfange ich noch zwei Depeschen aus Lemberg. Die eine von meinem hochgestellten Freunde, die lautete:

 

,Unglücklicher Freund! Ich hatte Ihnen gar nichts telegrafiert. Sie sind einer nichtswürdigen Mystifikation zum Opfer gefallen. Mit herzlichem Beileid der Ihrige.'

 

Die andere Depesche war von Ihm selbst und lautete kurz:

 

,In drei Tagen legen Sie das Mandat nieder, schreiben neue Wahlen aus und sorgen dafür, daß der Professor gewählt wird. Die Kosten Ihrer Wahl werden Ihnen vergütet werden.'

 

Was soll ich dir noch sagen? Nach drei Tagen war ich kein Landtagsabgeord­neter mehr, und ehe der weitere Monat verstrichen war, wurde der Lemberger Professor mit erdrückender Stimmenmehrheit zum Landtagsabgeordneten ge­wählt. Gleichzeitig wurde ich von meinem Posten abberufen, um hier in Lemberg ein untergeordnetes Dasein zu fristen. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht verloren. Durch meine Wahl, wenn sie auch nur auf ein« Mystifikation beruhte, habe ich doch einen glänzenden Beweis meiner Srammheit abgelegt. Ich hoffe, daß sich für mich sehr bald ein passendes Arbeitsfeld finden wird.“

 

Der Mann hatte ganz richtig vorhergesehen. Bei den unlängst verflossenen Reichsratswahlen war er schon auf einem anderen wichtigen und verantwortungs­vollen Posten und hatte sich neue Lorbeern verdient. Doch das gehört schon nicht hierher.

 

Wir plauderten noch über sein tragisches Geschick, und ich konnte nicht umhin zu fragen, ob es denn je ans Licht gekommen sei, wer sich erlaubt hatte, auf solche unerhörte Weise zu mystifizieren.

 

„Ans Licht gekommen?“ rief er fast entsetzt aus. „Wo denkst du hin, mein Lieber? Solche Sachen kommen bei uns nie ans Licht. Nichts kommt bei uns ans Licht. Und wozu auch? Wir wissen ja ohnehin, von wem es gemacht wurde. Du wirst mich schon verstehen, und wenn nicht, nun, desto besser. Der Rest ist Amtsgeheimnis.“

 

Wir schieden als Freunde, schieden diesmal, hoffe ich, für immer.

 

 

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* Bekannter Kolonialwarenladen und Frühstückszimmer (Anm, Frankos)

* Krakauer Feuervesicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit

 

 

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Zum erstenmal veröffentlicht in der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“, 1897, Nr. 165.

In ukr. Sprache erschien die Erzählung im Jahre 1900 in Lemberg in der Sammlung „Сім казок“ u. d. T. „Острий-преострий староста“. Der in Твори, Bd. З, Kiew 1950, S. 232 bis 248, wiedergegebene Text folgt dieser Fassung. Die vorliegende deutsche Fassung greift auf den in der „Zeit“ wiedergegebenen Wortlaut zurück.

 

 

30.09.1897