Die Stellung des Ruthenischen innerhalb der slawischen Sprachen


Die Stellung des Ruthenischen innerhalb der slawischen Sprachen


[GRAMMATIK DER RUTHENISCHEN (UKRAINISCHEN) SPRACHE.
von STEPHAN VON SMAL-STOCKYJ und THEODOR GÄRTNER.

WIEN, 1913.

Buchhandlung der Szewczenko-Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg.]

 

 

261 Weiterentwicklung des Ruthenischen gegenüber dem Urslawischen und Altkirchenslawischen

262 in den Lauten,

263 in der Wortbildung,

264 in der Flexion,

265 in der Syntax.

266 Vergleichung des Ruthenischen mit den anderen slaw. Sprachen.

287 Liste der positiven Merkmale des Ruthenischen in Vergleich mit den anderen slaw. Sprachen.

268 Gesichtspunkte für die Bewertung der Übereinstimmungen.

269 Die Übereinstimmungen mit dem Russischen und die mit dem Serbischen.

270 Liste der negativen Merkmale des Ruthenisehen im Vergleich mit den anderen slaw. Sprachen.

271 Verschiedene Gruppierungen der slawischen Sprachen nach den Merkmalen.

272 Die übliche Einteilung der slawischen Sprachen in drei Gruppen.

273 Die südslawische Gruppe,

274 die westslawische,

275 die „russische" Gruppe.

276 Diese Gruppe im Lichte unserer Listen.

277 Worauf wurde die Lehre von der Einheitlichkeit der „russischen" Gruppe aufgebaut?

278 Bewertung der Gründe für die Aufstellung einer solchen Gruppe.

279 Der Vollaut.

280 Unterschiede zwischen Ruthenisch und Russisch im Lautsystem,

281 in der Flexion,

282 im Wortschatz.

283 Es gibt kein „Urrussisch".

284 Geschichte der Einteilung der slawischen Sprachen.

285 Schädlichkeit der Annahme eines „Urrussischen".

286 Schlußwort.

 

Die Stellung des Ruthenischen innerhalb der slawischen Sprachen.

 

§ 261. Schon im Verlaufe unserer Darstellung der ruthenischen Sprache haben wir regelmäßig auf Übereinstimmungen und Verschiedenheiten hingewiesen, die zwischen dieser und den anderen slawischen Sprachen bestehen. Es liegt uns nun ob, diese Beziehungen zusammenzufassen und so die Stellung des Ruthenisclien zu beleuchten.

Vor allem wollen wir die Punkte zusammenstellen, in denen das Ruthenische I. im Lautwandel, II. in der Wortbildung, III. in der Biegung und IV. in der Syntax eine Weiterentwicklung aufweist gegenüber dem Urslawischen und gegenüber dem Altkirchenslawischen, das ja meistenteils die Stelle des Urslawischen vertreten muß und kann.

 

§ 262. I. Lautliche Weiterentwicklung gegenüber dem Urslawischen:

1. ę und ǫ werden entnäselt und fallen dann mit dem alten ja (in gewissen Fällen ě) und dem alten u zusammen.

2. ъ und ь verschwinden, wo möglich, ganz, sonst klären sie sich zu o und e auf.

3. Die Endungen -zjь, -yjь, -yjь, -ijь geben -ий, -ijǫ, -ijǫ -ию (-ю).

4. Nach dem Vorbild von o und e aus ъ und 6 entsteht der Gebrauch des unterstützenden o und e.

5. у und і fallen in einen Laut zusammen.

6. і wird zu einem e-Laut herabgestimmt.

7. Vollaut bei r und l.

8. Verzicht auf Länge und Intonation der Vokale: die Betonung beschränkt sich auf die Tonstärke,

9. Die Ablautsreihen verändern und vermindern sich.

10. Der ě-Diphthong erhöht sich zu ji (ї).

11. Diphthonge entstehen a) durch Vereinigung benachbarter Vokale, b) durch die Vokalisierung eines v und c) durch die eines ł, d) aus präjotierten Vokalen nach r.

12. In geschlossenen Silben geht e in ї (i), später o in і über.

13. tj, dj (t', d') wird zu ч, дж (ж), stj, zdj (st', zd) zu щ, ждж.

14. р, b, v, m+j gibt рl’, bl' vl', ml'.

15. kt, gt entwickelt sich vor і und ь zu ч.

16. я aus ę und ї aus e in geschlossener Silbe erweichen vorausgehende Konsonanten.

17. Das schwindende ь erweicht gleichfalls.

18. In den Auslaut rückende Konsonanten erweichen sich, wenn auch der abfallende Vokal nicht palatal war.

19. Die Erweichung greift über einen vorausgehenden Lippenlaut hinüber; so geht in alter Zeit kv, gv (chv) in цьв, зьв, (св) über, später sp, sv, sm, zv, cv in сьп, сьв, сьм, зьв, цьв.

20. к,ґ, x nehmen, wenn benachbarte palatale Vokale (і, и, e) dazu drängen, eine etwas palatale Aussprache an.

21. l’е, ńe, ŕe, l'i, ńi, ŕi erhärten zu ле, не, pe, JIQ, ни, ри; so entsteht auch hartes це, ци aus ce, ci.

22. Anlautendes y-, i- kann zu vokalischem oder konsonantischem в-, й- werden; vor y- tritt oft ein в an: ву-; daher geht anlautendes o- bei Silbenschluß in ву-, dann ві über.

23. Anlautendes a-, o- kann durch г gestützt werden.

24. Anlautende з-, c-, ж- lassen sich durch den t-Verschluß unterstützen: дз-, ц-, дж-.

25. Abfall einzelner Vokale im Anlaut und Auslaut.

26. Unbetonte e, o schwächen sich oft zu и, у ab.

27. Angleichung eines unbetonten Vokals an den folgenden betonten.

28. Vor ł verdumpft sich ь zu ъ (ȯ) und e zu o.

29. Vertretung eines e (aksl. ѥ) durch o im Anlaut.

30. Vertretung eines e durch o nach ш, ж, ч.

31. g wird zu dem Hauchlaut г (h).

32. dz und z fallen zusammen.

33. Verdopplung erweichter Konsonanten vor ъj.

34. e und и bringen keine neue Erweichung mehr hervor.

35. Die Suffixe -ець, -ця, -иця bekommen weiches c.

36. Erhärtung der breiten Zischlaute ш, ж, ч, дж und ŕ.

37. Aufnahme des fremden Lautes f.

38. Neue Konsonantenanpassungen.

39. Infolge des Verstummens des ъ, ъ, später auch anderer Vokale im Auslaut kommt der konsonantische Auslaut auf und regelt sich.

 

§ 263. II. Entwicklung der Wortbildung gegenüber dem Altkirchenslawischen:

Vergleicht man den Wortschatz des Ruthenischen mit dem des Altkirchenslawischen, so bemerkt man leicht, daß viele Wörter, die noch das Altruthenische, sei es in der Volkssprache oder wenigstens in der Büchersprache, mit dem Altkirchenslawischen teilte, aufgegeben und daß selbstverständlich noch weit mehr neue Wörter gebildet worden sind. Man kann sich davon schon durch die Vergleichung einer ruthenischen Übersetzung des Neuen Testaments mit dem altkirchenslawischen Text überzeugen. Die Aufnahme fremder Wörter hat dazu verhältnismäßig wenig beigetragen. Was die Mittel der Wortbildung anbelangt, sind zwar die meisten der alten Suffixe im Ruthenischen noch vorhanden, sie haben aber, wie wir gesehen haben, zu gutem Teil keine sprachbildende Kraft mehr. Hingegen sind andere alte und auf alter Basis geschaffene neue Suffixe im Bewußtsein des Volkes lebendig und zur Erneuerung und Vermehrung des Wortschatzes gebraucht. Als neue Suffixe haben wir kennen gelernt: -інє, -енє, -анє, -ованє, -уванє, -аль, -аля, -арня, -альня, -уня, -ощі, -ович, -евич, -ака, -яка, -чик, -чук, -ух, -уха, -ичок, -ичка, -иченька, -очок, -очка, -очко, -ечка, -ечко, -енька, -їнка, -енько, -ейко, -онька, -онько, -ойко, -івка, -івна, -ятко, -яточко, -инка, -иш, -сь, -ся, -усь, -уся für Hauptwörter, -овний, -евний, -арний, -альний, -ивний, -ичний, -їчний, -шний, -їшний, -астий, -ястий, -оватий, овитий, -ятий, -истий, -явий, -авий, -енний, -езний, -енький, -всенький, -ісїнький, -їський, -ший, -їйший für Beiwörter, -ка, -ки, -ечки für Adverbe, endlich -к-, -оньк-, -еньк-, -очк-, -унечк-, -усеньк-, -ць-, -усь- für Koseformen von Zeitwörtern. Man sieht, daß die deutlicheren, zumeist zusammengesetzten Suffixe beliebt sind.

Für das Ruthenische charakteristisch sind folgende zwei Züge aus dem Suffixleben. Man wendet außerordentlich gern Verkleinerungen und Vergröberungen an, jene besonders für alles, was die angesprochene Person angeht, und zwar sowohl in kosendem, als in ehrerbietigem Sinn, diese aber für alles, was den Sprechenden selbst betrifft. Zweitens ist es interessant zu beobachten, mit welchen- Suffixen das Volk die Geschlechtsnamen gebildet hat: von dem Namen oder der Beschäftigung des Vaters ausgehend mit -юк, -чук, -енько, -ів, -ович, -евич, von Ortsnamen mit -юк, -чук, -енько, -ський, von Ländernamen mit -ський, von dem Namen oder der Beschäftigung der Mutter mit -ин.

Die alten Verbalsuffixe sind zwar geblieben, haben aber, besonders bei neuen Bildungen, den Umfang ihrer Bestimmung verändert. Altkirchenslawisch und Ruthenisch stimmen in der Art der Zeitwörter oft nicht überein. Das System, nach welchem zu den Zeitwörtern einer Art entsprechende Zeitwörter einer anderen Art geschaffen werden, ist im Ruthenischen in mehreren Stücken selbstständig ausgebaut. Von einzelnen Übertritten aus einer Klasse in eine andere ist in der Biegungslehre die Rede.

An dem Bestand der Präfixe ist wenig geändert; із- ist in seinem Gebrauch eingeschränkt und durch ви- verdrängt, вз- ist ganz außer Verwendung gekommen.

Die Wortzusammensetzung bewegt sich ungefähr in demselben Rahmen wie im Altkirchenslawischen; doch ist der Schatz an Adverben und Vorwörtern durch dieses Mittel der Wortbildung beträchtlich vermehrt worden.

 

§ 264. III. Weiterentwicklung in der Flexion gegenüber dem Altkirchenslawischen:

1. Hauptwörter mit adjektivischer Biegung entstehen durch den Gebrauch, Beiwörter als Namen für Personen und Sachen zu verwenden.

2. Das Gefühl für Stämme geht verloren; die männlichen і-Stämme und и-Stämme verlieren sich unter den о-Stämmen, die weiblichen ы-Stämme unter den а-Stämmen, die weiblichen і-Stämme unterliegen dem Einfluß derer auf -ja, die konsonantischen Stämme werden dezimiert.

3. Es entsteht eine neue Gruppe männlicher Hauptwörter auf -o.

4. Die neuen Biegungsgruppen der Hauptwörter ordnen sich nach dem Geschlecht.

5. In jedem Geschlecht setzen sich eigene Endungen und eigene Regeln durch.

6. Im männlichen Geschlecht wird die Verwendung des Gen. für den Akk. zunächst nach der Bedeutung der Wörter normiert und geht dann selbst über diese Normen hinaus.

7. Ebenda kommt auch die Sitte auf, die zwei zu Gebote stehenden Genitivendungen -a und -y nach der Bedeutung der Wörter zu verteilen.

8. Bei den weiblichen Substantiven nimmt die Vorherrschaft der а-Deklination, besonders der harten а-Deklination zu, indem ihre Formen als Vorbild wirken. Die і-Stämme schließen sich immer enger an die jа-Stämme an.

9. Im Neutrum übernimmt ebenso die harte o-De- klination die Führung.

10. Die 7 Kasus und die 3 Zahlen bleiben zwar im Bewußtsein des Volkes erhalten, aber die Zweizahl erleidet eine Einbuße an Formen und eine Erweiterung in der Anwendung; den Lok. Sing. ersetzt man gern durch den Dativ.

11. Gewisse Kasusendungen ringen sich zu einer vorherrschenden Geltung durch, die zum Teil selbst über das Geschlecht hinaus wirkt: so -ам, -ами, -ax, ferner die männliche Endung des Gen. Plur. -ів, der Dat. Sing. -ови, dessen Nebenform -ові ihrerseits auf einen Zug hinweist, der von dem weiblichen Dat. Sing. auf -i ausgegangen ist.

12. Im Neutrum kam unter dem Einfluß der konsonantischen Stämme die Endung -я des Nom. Sing. und -ям in Instr. Sing. auf.

13. Zwischen den zwei Ausgängen -ЬН und --НН des Gen. Plur. der weiblichen i-Deklination, die im Altkirchenslawischen noch wechselten, wählte das Ruthenische den zweiten (-ий).

14. Der Nom. Plur. der männlichen Hauptwörter ist durch die Akkusativform ersetzt.

15. Der Vokativ Sing. wird nur sehr selten durch den Nominativ vertreten; wenn der Vokativ lautlich eine Schwierigkeit darbietet, so greift man gern zu einer Koseform, da diese ohne Schwierigkeit den Vokativ auf -у darbietet.

16. Das Gesetz der Erweichungen der k-Konsonanten vor Є und Ѣ bleibt in Kraft, bei jüngeren Deminutiven auf -ок, -ко meidet man jedoch die Endungen mit Є und Ѣ und ersetzt sie lieber durch у.

17. Die Biegung bekommt überdies dadurch ein anderes Aussehen, daß Umlaut, Einschub, Ausfall von Vokalen, Tonverrückung, Anpassungen von Konsonanten, neue Erweichungen und Erhärtungen das Wortbild verändern.

18. Die substantivische Deklination der Adjektiva wurde aufgegeben.

19. Aus der Deklination der bestimmten Adjektiva und der der Pronomina erwächst durch Ausgleiche eine neue, gemeinsame Biegungsart.

20. Im Plural wird bei Adjektiva und Pronomina auf die Unterscheidung des weiblichen und sächlichen Geschlechtes ganz verzichtet.

21. Als Endung des Nom. Sing. Mask. wird -ий festgesetzt, hiemit entschied sich das Ruthenische zwischen den im Altkirchenslawischen wechselnden Formen -ЪН und -ЪІН für die letzte.

22. Das hinweisende Fürwort він, вона́, воно́, Plural вони́ wird zum Personalpronomen der 3. Person für den Nominativ.

23. Bildung unbestimmter Fürwörter aus fragenden durch Anhängung von -сь.

24. Die Grundzahlen bekommen eine Biegung, die sich an die der Adjektiva und der Pronomina anlehnt.

25. Aorist, Imperfekt, Part. Präs. Akt. und Pass., Part. Perf. Akt. I., Supinum und alle Dualformen des Zeitwortes sind aufgegeben.

26. Die Endung der 2. Pers. Sing. -in steht der aksl. -ШН gegenüber.

27. Die 3. Pers. Sing. und Plur. hat dem griechischen -τι entsprechend ein weiches -ть im Auslaut; das -ть fällt aber nach e und є in der Regel ab, nach и selten. Von -аєть kann durch Verkürzung das bloße -a Zurückbleiben.

28. In der 1. Pers. Plur. ist die Endung -мо МОüblich.

29. In der 2. Pers. Sing. des Imperativs fällt das -и ab, wenn es nicht betont ist. Damit geht Hand in Hand die Bildung eines Plurals auf -мо und -те vom gekürzten Singular aus.

30. Verkürzung der 2. Pers. Plur. des Imperativs auf -те zu -ть.

31. Der Imperativ der 1. und 2. Pers. Plur. der і-Konjugation folgt dem Vorbild der anderen.

32. Ebenso ergreift die Analogie die 3. Pers. Plur. des Präs. und das Part. Präs. der і-Konjugation: -ють statt -ять, -ючи statt -ячи.

33. Der Infinitiv auf -ти kann, wofern die Silbe -ти nicht betont ist, auch zu -ть verkürzt werden.

34. Im Part. Perf. Pass, tritt statt -ений manchmal die Form -яний auf.

35. Das Perfekt entledigt sich des Hilfszeitwortes.

36. Das Futurum wird durch буду und durch му mit dem Infinitiv (selten Part. Perf. Akt.) gegeben.

37. Das Plusquamperfekt macht man aus dem Perfekt mit був.

38. Konjunktiv und Kondizional erhält man aus dem Perfekt mit der Partikel би.

39. Das Part. Prät. Akt. wird vom Perfekt aus gebildet.

40. Das Part. Perf. Pass, gilt auch als Part. Präs. Pass.

41. Das Präsens von бути ist auf die Form e zusammengeschmolzen.

42. Verschiebungen in der Suffixierung, lautliche und Formenangleichungen und lautgesetzliche Erscheinungen helfen zusammen, der Verbalbiegung ein besonderes Gepräge zu verleihen.

 

§ 265. IV. Weiterentwicklung in der Syntax gegenüber dem Altkirchenslawischen.

Es ist unmöglich hier auszuführen, in wie vielen Stücken die ruthenische Syntax gegenüber dem Altkirchenslawischen und den anderen slawischen Sprachen Verschiedenes und Eigentümliches darbietet. Selbst wenn dieselbe syntaktische Erscheinung in zwei Sprachen vorliegt, kann doch die Häufigkeit und der Umfang des Gebrauches sehr verschieden sein; und solche Messungen lassen sich kaum anstellen. Wir wollen hier nur diejenigen Abweichungen der ruthenischen Syntax gegenüber der Altkirchenslawischen zusammenstellen, auf die wir in diesem Buche gelegentlich hinweisen mußten.

 

1. Weglassung der Kopula im Präsens.

2. Größere Ausbreitung der subjektlosen Fügung.

3. Das natürliche Geschlecht verdrängt das grammatische.

4. Einschränkung des Gebrauches der Zweizahl zugunsten der Mehrzahl.

5. Erweiterung des Gebrauches der Zweizahl auf die Zahlen 3 und 4.

6. Mehrzahl des Prädikats bei einem Subjekt im Singular mit einem durch з (съ) verbundenen Begleiter.

7. Der ehrende Plural.

8. Der Gen. Part., wenn man nicht einen Teil des Gegenstandes selbst meint, sondern einen Teil der Zeit.

9. Größere Verwendung des Gen. auf Kosten des Akk. überhaupt und besonders in den verneinten Sätzen.

10. Der Vokativ als Subjekt in lebhafter Rede.

11. Außerordentlich erweiterter Gebrauch des prädikativen Instrumentals.

12. Lokalis ausschließlich mit Vorwörtern.

13. Häufigerer Gebrauch des Personalpronomens.

14. Verwendung ursprünglich fragender Fürwörter als relative und umgekehrt.

15. Verlust des Relativums НЖЄ.

16. Ersatz der Formen des Relativums durch erstarrtes що.

17. Das Fragefürwort що за.

18. Що in der Bedeutung „jeder“.

19. Der Imperativ als Prädikat in lebhafter Erzählung.

20. Der Imperativ der 2, Person auf die 1. und die 3. angewandt.

21. Verstärkung des Imperativs durch -ко und -но.

22. Infinitivsätze mit Bindewörtern in ausgedehnter Verwendung.

23. Verlust der adjektivischen Partizipe des Aktivums.

24. Ausgebreitete Verwendung der erstarrten, adverbialen Partizipe zur Satzkürzung.

25. Das Part. Perf. Akt. II. wird als verbum finitum verwendet.

26. Das Part. Perf. Pass, ist zum bloßen Passivpartizip geworden.

27. Neue umschriebene Verbalformen durch було́, бува́ло.

28. Wunschsätze mit неха́й, най, бода́й für die 1. und die 3. Person.

29. Fragepartikel чи.

30. Die kondizionale Partikel би in Infinitivsätzen.

31. Der Bestand der Vorwörter ist bedeutend vermehrt und die Verwendung der alten Vorwörter zum Teil verändert.

32. Wiederholung des Vorwortes vor dem nachgesetzten attributiven Beiwort.

33. Besonders große Veränderung des Bestandes der Bindewörter.

 

§ 266. Alle Veränderungen in den Sprachformen haben eine Ursache; sie liegt zumeist in der physischen und geistigen Beschaffenheit des Volkes, oder wenn dieses gemischt ist, auch in den Sprechgewohnheiten der aufgesogenen fremden Nation. Und für die Erkenntnis der Sprachverwandtschaft sind sowohl die Lautgesetze als die analogischen Sprachveränderungen maßgebend (physiologischer und psychologischer Wandel). Es geschieht aber bekanntlich auch sehr leicht, daß sich eine sprachliche Veränderung von einem Nachbarvolk her über die Sprachgrenze hin ausbreitet, und zwar um so leichter, je näher die Nachbarsprachen miteinander verwandt sind und je größer der Verkehr zwischen den zwei Völkern ist. Daher versteht es sich von selbst, daß benachbarte Sprachen desselben Sprachstammes in vielen gleichen oder ähnlichen sprachlichen Veränderungen übereinstimmen, und zwar um so mehr, je länger die gemeinsame Sprachgrenze ist. Übereinstimmungen zwischen geographisch getrennten Sprachen haben einen bei weitem größeren Wert für die Sprachgeschichte, selbst wenn es in jüngerer Zeit vollzogene Entwicklungen sind; denn sie können eben durch die gleiche physische oder geistige Beschaffenheit der zwei Völker verursacht sein. Wollen wir also die Stellung des Ruthenischen bestimmen, so müßen wir es mit allen anderen slawischen Sprachen vergleichen und die Übereinstimmungen und Unterschiede von diesem Gesichtspunkt aus bewerten.

Unsere Vergleichung kann selbstverständlich weder vollkommen, noch vollständig sein, immerhin aber wird sie für unseren Zweck ausführlich genug sein. Das Altkirchenslawische kommt dabei nicht in Frage. Von den lebenden Sprachen lassen wir das Sorbische beiseite, weil es für unsere weitgreifenden Betrachtungen ohne Belang ist. Wir würden dasselbe mit dem Weißrussischen tun, wenn das nicht eine Nachbarsprache wäre und nicht als ein Mittelglied zwischen Ruthenisch und Russisch Bedeutung hätte. So wertvoll die Mundarten für die Sprachgeschichte sind, so müssen wir hier bei der großzügigen Vergleichung doch von ihnen im allgemeinen absehen. Die Merkmale, die wir vergleichen, betreffen vorwiegend die Laut- und Formenlehre und sind durch kurze Formeln angegeben, die wir durch die Verweisung auf die Para- graphe unseres Buches verständlich machen.

Die Übereinstimmung mit dem Ruthenischen ist mit 1 bezeichnet.

 

§ 267.



_________________________

1) Verdumpfend wirkt das l auch hier; s. unten S. 484. 2) Das ł in piekł, niósł, szedł usw. bleibt in ungezwungener Aussprache weg (Broch, Slaw. Phonetik, S. 247). 3) Analogisches -ami, -ach kommt vor (bes. im Slowak.). 4) Nordwestbulgarisch doch auch. 5) Kroatisch doch auch mit imam. 6) t, d werden sogar zu t'ś, dź erweicht.

7) Nur bei leblosen. 8) Nordwestbulgarisch doch. 9) Die Lautgruppe stj ist dabei nicht berücksichtigt. 10) Ziemlich eingeschränkt. 11) Mit dem Partizip. 12) Kroatisch doch. 13) Sehr selten. 14) Kommt auch vor. 15) Als e und ie. 16) Slowakisch doch.

17) Slowakisch doch. 18) Hier regelmäßig.

19) Hier regelmäßig. 20) Durch die Schreibung und in gewissen Fällen durch die Aussprache des vorhergehenden Konsonanten geschieden. 21) S. Rozwadowski, Rocz. slaw. IV, 37.

 

§ 268. Da wir bei der Zusammenstellung dieser Liste fast ausschließlich von denjenigen Merkmalen ausgegangen sind, die das Ruthenische in seiner Weiterentwicklung erworben hat, so ist es begreiflich, daß sich darunter einige Merkmale befinden, die in keiner der anderen Sprachen wiederkehren (Punkt 37). Durch die anderen Merkmale stimmt das Ruthenische in mannigfaltiger Weise mit einzelnen Sprachen oder Sprachgruppen überein.

Wenn das Ruthenische an die Gebiete der sieben verglichenen Sprachen mit gleich langen und gleich offenen Grenzen anstieße, so könnte man sich nicht wundern, wenn alle sieben Sprachen gleich viel Übereinstimmungen aufwiesen; und wenn sich dennoch auf einer Seite eine erheblich größere Anzahl von Übereinstimmungen zeigte, so könnte man auf eine nähere, ältere Verwandtschaft mit dem Ruthenischen schließen. Nun ist aber die ruth.- russ. Grenze ungefähr 1100 Kilometer lang, die ruth.- weißruss. 600, die ruth.-poln. 400, die ruth.-tschech. und die ruth.-bulg. kaum 100, vom Slowenischen und vom Serbischen ist das Ruthenische durch weite fremdsprachige Landschaften getrennt. Dementsprechend würde man — vorausgesetzt, daß es keine Verwandtschaftsgruppen unter den slawischen Sprachen gibt — erwarten können, daß weitaus am meisten Übereinstimmungen im Russischen zu finden wären, weitaus am wenigsten im Slowenischen und im Serbischen. Unsere Liste sagt aber anders aus.

 

§ 269. Vergleichen wir die Übereinstimmungen des Ruthenischen mit dem geographisch am engsten anliegenden Russischen und die mit dem geographisch am weitesten abliegenden Serbischen, so finden wir nach Ausscheidung der Fälle, wo Russisch und Serbisch beide für oder beide wider das Ruthenische stimmen, folgendes: Das Russische geht in 9 Gruppen mit dem Ruthenischen: am häufigsten, wie es sich von selbst versteht, in der NO.-Gruppe Ruth.-Russ.-Weißruss. (Punkt 1), dann in der großen Gruppe, die nur Serb. und Bulg. ausschließt (8), dann in der N.-Gruppe Ruth.-Russ.-Weißruss.-Poln.-Tschech. (5), dann in einer engeren N.-Gruppe, nämlich Ruth.-Russ.-Weißruss.-Poln. (2), selten in anderen Gruppen (4, 7, 13, 15, 16). Das Serbische kommt in 10 Gruppen mit dem Ruth, zusammen: am häufigsten ist nur gerade das Russische ausgeschlossen (Punkt 29), dann kommen die Gruppen Ruth.-Weißruss.-Slow.-Serb. (28) und Ruth.-Serb. (35), endlich andere (20, 22, 24, 30, 31, 33, 34). Die Anzahl der Übereinstimmungen mit dem Russ. ist ungefähr gleich der mit dem Poln. und dem Tschech. (besonders dem Slowak.) und nicht gar viel geringer als die Anzahl der Übereinstimmungen mit dem seit Jahrhunderten durch einen mächtigen deutsch- madjarischen Grenzwall abgeschiedenen Serbisch. Daraus folgt, daß die Ruthenen einstens eine viel engere Gemeinsamkeit mit den Serben gehabt haben müssen als mit den Russen.

Wir haben hier nur solche Merkmale zusammengestellt, in denen das Ruthenische und mit ihm bald diese, bald jene Sprachgruppe eine Weiterentwicklung gegenüber dem Urslawischen darbietet. Aber auch diejenigen Merkmale, in denen sich das Ruthenische konservativ verhält und die daher vom ruth. Standpunkt aus negative Merkmale sind, müssen zur Vergleichung mit den anderen Sprachen herangezogen werden und bringen weitere, nicht unwichtige Momente zur Beurteilung der Stellung des Ruthenischen bei. Wir stellen daher dem Leser noch die folgende Liste vor Augen:

 

§270.


____________________

1) Gebrauch eingeschränkt, syntaktisch bedingt.

2) Nordwestbulgarisch.

 

§ 271. Wir sehen hier wieder 16 verschiedene Gruppierungen der betrachteten 8 Sprachen, darunter 6 neue. Alle 120 Merkmale teilen das slawische Sprachgebiet in 43 Gruppen; über deren Mannigfaltigkeit belehren die beigegebenen 4 Tafeln. Wenn man ebenso, wie es hier vom Standpunkte der ruth. Sprache geschehen ist, von dem jeder anderen slawischen Sprache aus solche Zusammenstellungen machte, so würden sich die unterscheidenden Merkmale, aber auch die Gruppen noch vermehren.

 

I. Elf Gruppen nach Merkmalen, die das Ruthenische mit dem Russischen verbinden und vom Serbischen trennen.

 

Die Linien zwischen Ruthenisch und Serbisch (VI) entsprechen der Reihe nach den Nummern 1, 2, 4, 5, 7, 8, 38, 13, 15, 16, 39 in den Listen (§ 267 und 270).

 

 

II. Dreizehn Gruppen nach Merkmalen, die das Ruthenische vom Russischen trennen und mit dem Serbischen verbinden.

Die Linien zwischen Ruthenisch und Russisch (I) entsprechen der Reihe nach den Nummern 35, 33, 34, 43, 42, 30, 22, 21, 28, 31, 41, 20, 29 in den Listen.

 

 

III. Sechs Gruppen nach Merkmalen, die das Ruthenische mit dem Russischen und dem Serbischen verbinden.

 

 

Die Linien außerhalb des Russischen (I) entsprechen der Reihe nach den Nummern 23, 19, 27, 14, 12, 26.

 

 

IV. Dreizehn Gruppen nach Merkmalen, die das Ruthenische vom Russischen und vom Serbischen trennen.

 

 

Die Linien zwischen Ruthenisch und Russisch (I) entsprechen der Reihe nach den Nummern 37, 3, 21, 11, 6, 18, 36, 9, 10, 17, 32, 25, 40.

 

 

Und wenn man einmal die nötigen wissenschaftlichen Behelfe besitzen wird, diese Vergleichungen zu vervollständigen und gar noch über das Gebiet der Wortbildung, des Bedeutungswandels und der Syntax auszudehnen, so würde man abermals neue, für die Beurteilung des gegenseitigen Verhältnisses der slawischen Sprachen wichtige Argumente gewinnen. Das Bild der Merkmalsgrenzen würde an Verläßlichkeit zunehmen. Neue, in großer Anzahl zusammenfallende Grenzen würden freilich kaum zum Vorschein kommen, vielmehr zahlreiche neue wirr durcheinander laufende Grenzen.

 

§ 272. Wie steht es nun um die übliche Einteilung der slawischen Sprachen in drei Gruppen?

Von den oben (267 u. 270) zusammengestellten Merkmalen entfallen auf eine Gruppe im Durchschnitt nicht einmal drei, und nicht viel mehr Merkmale pflegt man für die übliche Einteilung in drei Gruppen ins Treffen zu führen (s. Vondrak, Vergleich, slaw. Gramm., Einleitung; Mikkola, Urslaw. Gramm., Einleitung). Auf so wenige Merkmale eine Einteilung der slawischen Sprachen in drei Gruppen aufzubauen und diese Einteilung als etwas Wesentliches hinzu stellen, ist mit Rücksicht auf die große Anzahl der tatsächlich vorhandenen mannigfaltigen Gruppierungen jedenfalls sehr gewagt; denn, wenn diese auserwählten Merkmale tief in das Wesen der Sprachen eingriffen, wenn die Annahme richtig wäre, daß jede dieser drei Gruppen eine Zeit lang als Einheit ein Sonderleben geführt habe, dann müßten sich von selbst auch viele andere, vielleicht nicht minder wesentliche Merkmale finden, die diese Gruppierung stützten. Dem ist aber nicht so. Unter unseren 43 Gruppen ragen die Nummern 1 (Ruthenisch, Russisch, Weißrussisch), 27 (Polnisch, Tschechisch) und o (Südgruppe) keineswegs durch besonders zahlreiche und tiefgehende Merkmale hervor.

 

§ 273. Über das Südslawische sagt z. B. Mikkola, Urslaw. Gramm., S. 6: „Mit Ausnahme von syntaktischen Eigentümlichkeiten weist die Lautlehre der südslawischen Sprachen nichts auf, was sie auffallend scharf sowohl vom Westslawischen als vom Russischen unterschiede. “ Unsere Vergleichungen bestätigen das, sie bringen nur ein lautliches Merkmal bei, nämlich den Mangel der Erweichung durch ь und zwei flexivische Merkmale, die das Südslawische abtrennen (s. Punkt 5 der zwei Listen).

 

§274. Was das Westslawische betrifft, hat Kulbakin in einer sehr lehrreichen Abhandlung (Rocznik slaw. I, 43 ff.) die Annahme Schachmatovs, daß es ein Urwestslawisch gegeben habe, gründlich zerstört, obwohl die unterscheidenden Merkmale, die unsere Vergleichung liefert (Punkt 27 der 1. Liste) und das Merkmal der bekannten westslawischen (nicht slowakischen) Erweichung des r, das wir vom ruthenischen Standpunkt aus keinen Anlaß fanden zu erwähnen, immerhin eine scharfe Grenze gegen die anderen slawischen Sprachen bilden. Denn selbst unsere Listen liefern schon 28 Merkmale (Punkt 2, 4, 6, 10, 11, 13, 14, 21, 25, 26, 32, 38, 39, 40, 41 und 43), die das Tschechische vom Polnischen trennen, und darunter so gewichtige wie die Entwicklung des urslaw. ǫ, ę 1), des urslaw. ъ, ь, des urslaw. g, die weichen Lippenlaute im Polnischen, die langen Vokale im Tschechischen, der Umlaut von e zu jo im Polnischen. Und außerhalb unserer Listen findet man noch den Unterschied in der Behandlung der tort-, tolt-, tъrt-, tъlt- Gruppen, das silbenbildende l, r im Tchechischen usw.

Wir haben also mit diesen zwei Gruppen nicht mehr zu rechnen: Südslawisch und Westslawisch sind nur geographische Bezeichnungen und sagen sprachgeschichtlich nichts aus.

____________________

1) Mikkola, Ursl. Gramm., S. 9 und 14 spricht diesem Unterschied einen besonders wichtigen geschichtlichen Wert zu.

 

§ 275. Eine „russische“ Gruppe als sprachgeschichtliche Einheit hat zuerst ausdrücklich und kategorisch Sobolevskij in seinen Лекцій 1888 aufgestellt; für ihn gilt der Satz von der Einheitlichkeit der „russischen“ (groß-, klein- und weißrussischen) Nation und Sprache als ein anthropologisch und linguistisch feststehendes Axiom. In der Auflage vom Jahre 1907 wagt er nicht mehr, die Anthropologie für seine These anzurufen, aber an der sprachlichen Einheit hält er fest und verlangt bezeichnenderweise, daß man, um sich von der Einheit zu überzeugen, nicht das eigentliche Russische (Moskau) und das eigentliche Ruthenische (Ukrainisch-Galizische) miteinander vergleiche, sondern Mundarten seiner Wahl, nämlich die Mundarten am Nordrand des ruthenischen Gebietes, die er selbst als Misch- und Ubergangsmundarten bezeichnet, und den nordrussischen Dialekt. Diese Lehre hat zwar Jagić (Критич. замѣтки, Ст.-П. 1889) in Einzelheiten angefochten, aber niemand eingehender untersucht oder zu widerlegen gewagt, vielmehr hat sich die slawische Philologie dieses Axiom gewissermaßen zu eigen gemacht.1)

__________________

1) Sonderbarerweise macht Kulbakin, der keine westslaw. und keine südslaw. Gruppe anerkennt, vor der „russischen“ halt, ohne den geringsten Grund dafür anzugeben. Selbst Kaschubisch und Slowakisch läßt er eigenen urslawischen Mundarten (говоры) entsprießen, während er das Ruthenische nur als eine der drei Hauptmundarten des „Russischen“ kennt (Древ.-церк.-слов языкъ, 1913, S. 1 ff.).

 

§ 276. Befragen wir nun unsere Listen, so finden wir im ganzen 11 Merkmale (Punkt 1), in denen die sogenannten russischen Sprachen (Russisch, Weißrussisch und Ruthenisch) im Gegensatz zu den anderen slawischen Sprachen übereinstimmen: 4 lautliche und 7 flexivische. Die drei Sprachen sehen wir noch in 44 Merkmalen im Einklang, aber in 16 verschiedenen Gruppen, wo auch noch andere Sprachen an der gleichen Entwicklung teilnehmen, besonders 8mal Polnisch und Tschechisch (Punkt 5), 6mal Polnisch, Tschechisch und Slowenisch (8), 5mal Slowenisch, Serbisch und Bulgarisch (27), 4mal Polnisch (2), 3mal Polnisch und Bulgarisch (13), 3mal Bulgarisch (15), 3mal alle außer Slowenisch und Serbisch (16), 2 oder 1 mal andere (4, 7, 12, 14, 19, 23, 25, 38, 39). Andererseits tun unsere Listen dar, daß das Ruthenische vom Russischen durch 65 Merkmale geschieden ist,1) und zwar in 26 Gruppen. Dabei steht das Ruthenische 10 mal allein (Punkt 37), 8 mal geht es mit allen Sprachen außer gerade dem Russischen (29), 6 mal mit Weißrussisch und Polnisch (6), 5 mal mit dem Weißrussischen (3), 4 mal mit Weißrussisch, Polnisch und Tschechisch (9), 3 mal mit Weiß- russisch, Polnisch, Tschechisch und Serbisch (20), 2 oder 1mal mit anderen Gruppen (10, 11, 17, 18, 21, 22, 24, 25, 28, 30—36, 40—43). Die bloßen Zahlen sprechen deutlich aus, daß zwischen Ruthenisch und Russisch keine nähere Verwandtschaft besteht als zwischen anderen slawischen Sprachen, insbesondere wenn man erwägt, daß diese zwei Sprachgebiete die weitaus längste Berührungslinie haben, die zwischen slawischen Sprachen vorkommt, daß ferner die meisten Ruthenen unter der Herrschaft Rußlands und dem Einfluß der ausschließlich geltenden russischen Sprache in Schule, Kirche und öffentlichem Leben stehen, endlich daß die Ruthenen im 17. und 18. Jahrhundert mit ihrer konsolidierten Schrift- und Gebildetensprache einen großen Einfluß auf die Ausbildung der russischen Schriftsprache ausgeübt haben (vgl. Budde, Очеркъ исторіи современнаго литературнаго русскаго языка, in der Энциклопедія славянск. филол., 12. Heft, St.-Petersburg 1908).

________________

1) Auch A. Sobolevskij (Очеркъ русской діалектології!, III, S. 2—10) stellt mehr als sechzig Unterschiede zwischen Russisch und Ruthenisch zusammen, ohne auf Lexikalisches (Wortbildung) und Syntaktisches einzugehen.

 

§ 277. Sehen wir uns um, worauf denn der Satz von der Einheitlichkeit der „russischen“ Gruppe aufgebaut ist, so lesen wir — um nur die neuesten Äußerungen anzuführen — bei Vondräk, Vergleich, slaw. Gramm. I, 2: „Es (das Russische) hält genau die beiden Halbvokale auseinander . . . und fällt insbesondere durch die torot-, tolot- und teret-, telet-Gruppe auf.“ Auf S. 6 sagt er noch nebenbei: „Uber o- im Anlaut statt des e-, je- der anderen slawischen Sprachen siehe weiter unten.“ Mikkola, Urslaw. Gramm. (§ 5), dem „die Gliederung der slawischen Sprachen in drei Gruppen im Hinblick auf die jetzigen Verhältnisse gewissermaßen berechtigt“ scheint, sagt: „Das Russische hat -olo-, -oro-, -ere- dort, wo in den anderen slawischen Sprachen -lo-, -ro-, -le-, -re- und -la-, -ra-, -lě-, -rě- steht; in den meisten Fällen steht im Russischen anlautendes o- dem anlautenden je- der westlichen und südlichen Gruppe gegenüber und die ursprüngliche Verbindung tj, dj ist in č, ž verwandelt. Auch ist der Übergang von e in o nach j und den palatalisierten Konsonanten č, ž, š dem ganzen russischen Sprachgebiet gemeinsam und keine von den anderen Schwestersprachen hält die urprünglichen ъ- und i-Laute so streng auseinander“. Am ausführlichsten hatte im Jahre 1898 im ASPh. XX 33 Jagic die „russische“ Gruppe zu stützen gesucht; er sagt: „Daß alle russischen Dialekte gegenüber den übrigen slawischen Dialekten — wem der Ausdruck Dialekt nicht gefällt, kann dafür Sprache sagen, in der Wissenschaft ist das Nebensache — ein Ganzes bilden, mit vielen merkwürdigen Zügen einer inneren Einheit ausgestattet, das bildet unter Sprachforschern keine Streitfrage. Allen russischen Dialekten sind folgende wichtigere Züge gemeinsam — ich gebe kurz nur Beispiele: а) одинъ, олень, осень; b) сонъ, день, огонь, сестеръ; с) торгъ, гордый, держати, кровь, крестъ; d) волкъ, долгъ, блоха, слеза; е) городъ, голосъ, дорога, голова; f) береза, дерево, молоко, жолобъ; g) мясо, пять, святый-святой; h) межа, свѣча; і) двинуть, везъ, могъ (für двигнути, везлъ, моглъ); k) горо- дамъ - городами-городахъ; 1) доброго (добраго), доброе; m) той-тотъ; п) береть-беретъ, беруть-беруть; о) bewegliche Betonung ohne Quantität.“

 

§ 278. Jagic hat scheinbar mehr unterscheidende Merkmale der „russischen“ Gruppe aufgezählt als wir. Aber einige Merkmale darunter sind durchaus nicht cha-rakteristisch für diese drei Sprachen; so gehört von den Beispielen unter b) nur огонь hieher; сонъ, d. h. o für ъ ist ja auch bulgarisch (s. Mladenov, Rocznik slaw. V 183 u. 193; Kulbakin, Древне-церковно-слов. языкъ 2, S. 3), sorbisch und slowakisch, день, d. h. e für 6, ist mit Ausnahme von Serbisch und Slowenisch fast allgemein slawisch (s. Mikkola, Urslaw. Gramm., S. 37), сестеръ, d. h. unterstützendes e ist auch polnisch, sorbisch, tschechisch und slowenisch ; g) ę = ja ist auch sorbisch und tschechisch; k) -амъ, -ами, -ахъ im Maskulinum ist auch sorbisch, -ами, -ахъ überdies auch polnisch und slowakisch, es sind verhältnismäßig junge Analogiebildungen, aus denen man nicht ein „Urrussisch“ erschließen darf; m) той ist auch bulgarisch und serbisch (taj), im Russischen nur dialektisch, тотъ ist im Russischen und im Ruthenischen verschiedenen und sehr beschränkten Gebrauches, es ist eine junge Zusammensetzung und für eine Vergleichung ungeeignet; n) береть-беретъ, беруть-беруть vereinigt drei Merkmale, nämlich die Endung -ть, die vielmehr das Russische ausschließt, die Erhaltung des t im Plural, die aber ebenso eine Eigentümlichkeit des Bulgarischen ist, und die Erhaltung des t im Singular, wo wieder Russisch und Ruthenisch hei der größten Anzahl der Verba auseinandergehen; o) eine bewegliche Betonung ohne Quantität hat ja auch das Bulgarische, überdies nehmen an der beweglichen Betonung noch die Serben und Slowenen teil, an dem Mangel an Längen die Polen und Sorben. Desgleichen fällt bei Mikkola das Merkmal der strengen Scheidung von ъ und ь weg, da diese Mikkola selbst (S. 37 f.) auch in einigen bulgarischen Dialekten, im Polnischen und Sorbischen feststellt.

Die Beispiele bei Jagic unter c) sollen sagen, daß ъ und ь in den Lautverbindungen ъr, ъr, rъ, rь zu о und е werden; das ist aber nichts spezifisch russisches. Wenn wir von den vier allgemein als urslawisch angesetzten Lautverbindungen ъr, ьr, , ausgehen, so sehen wir, daß sich die slawischen Sprachen durch deren Entwicklung in zwei Gruppen son-dern: 1. in solche, die das ъ und ь als für sie unentbehrlich behalten haben, und 2. in solche, die das r zum Silbenträger machten und daher ъ und ь aufgeben konnten (Tschechisch, Slowenisch und Serbisch). Diese Unter-scheidung ist der Kern der Frage; welche Vokale sich aus ъ und ь entwickelten, ist hier Nebensache und nach den bekannten Lautgesetzen der betreffenden Sprachen geregelt, und daß das Lautgesetz а, ь = o, e keine Besonderheit der „russischen“ Gruppe ist, haben wir schon dargetan (siehe b) сонъ, день). Unter d) sind die gleichen Verbindungen von l mit ъ und ь gemeint. Hier steht das Tschechische mit dem silbenbildenden l allein. Die Wiedergabe dieser Verbindungen in den verschiedenen Sprachen ist ziemlich kompliziert; jedenfalls ist nach unserer Meinung auch hier von ъ und ь auszugehen, die sich nach bestimmten Regeln (Mikkola, Urslaw. Gramm., S. 84) zu vollen Vokalen entwickelt haben. Eine „russische“ Gemeinschaft läßt sich gewiß nicht aus der Reihe von Wiedergaben, z. B. des urslaw. vьlkъ herauslesen: russ. волкъ, weißruss. u. ruth. вовк, slow, vołk (vouk), polabisch våuk, slowinzisch vouk, oder des urslaw. рьіпъ: russ. полный, weißruss. u. ruth. повний, slow. połn (poun), poln. pełny, sorb. półny, połny, polabisch påune, slowinzisch pouny. Aber auch die Formen serb. vuk, pun, dug (urslaw. dьlgъ) und tschech. dlouhy, poln. dlugi lassen sich am einfachsten in folgender Weise lautphysiologisch verständlich machen: das ъ in der Verbindung ьl, ьł wird unter dem Einfluß des ł zu einem dumpfen Vokal; infolge der im Serbischen bekannten Vokalisierung des ł gibt das nun zunächst einen Diphthong (ähnlich wie im Slowenischen und wie im Ruthenischen), dann den Monophthong u; in dlouhý (aus älterem dlūhý), długi sehen wir überdies die unter dem Namen Liquidametathese bekannte Erscheinung. Die serbischen und tschechischen Formen vuk, dlouhy usw. erklärt man auf dem Umwege der Annahme eines ehemaligen silbenbildenden l in diesen Sprachen; das ist aber eben eine bloße Annahme, unbewiesen, und, wie man sieht, überflüssig.1) Unsere Erklärung steht auf dem festen Boden der Tatsachen und der auch in anderen Fällen in diesen Sprachen geltenden Lautgesetze. (Den Einfluß der Quantität, der Intonation und der Lautumgebung auf die verschiedenen Endergebnisse in jenen anderen Sprachen können wir hier beiseite lassen, da unsere Auffassung des Lautwandels durch diese Einzelheiten nicht berührt wird.)

Der Punkt h) betrifft die Lautentwicklung von tj, dj. In dieser Beziehung zerfallen die slawischen Sprachen in zwei Gruppen, je nachdem sich der palatale Engenlaut zu einem dünnen oder zu einem breiten Zischlaut auswächst; durch diesen Hauptunterschied sondert sich die „russische“ Gruppe nur vom Westslawischen, nicht vom Südslawischen. Der Punkt h) kann also die „russische“ Gemeinschaft nicht stützen; im Gegenteil wird durch die Entwicklung des dj das Russische vom Ruthenischen ebenso getrennt wie das Tschechische vom Polnischen. Denn — was freilich durch die Wahl des Beispieles межа verdeckt wird — das Ruthenische hat allgemein (wie auch das Nordwestbulgarische) дж aus dj, das Russische ж.

Der Punkt i) vereinigt zwei verschiedene Dinge. Der Ausfall von г in двинуть ist russisch, aber nicht ruthenisch, ist übrigens auch im Russischen nichts weniger als ein Lautgesetz. Der Abfall von l in везъ, могъ ist tatsächlich auch polnisch (vgl. S. 466, Punkt 2) und eine Erscheinung jüngeren Datums. Beim Punkt 1) доброго, доброе ist es schwer zu sagen, was da als ein „russisches“ Merkmal gelten soll; denn ruthen. -oro heißt auf Russisch -аго (d. h. -avo u. dgl.) und russ. -oe lautet auf Ruthenisch -e, -ce. Ist der Gegensatz von -ого, -аго zu -ego gemeint, so hat ja wieder auch das Serbische -ога und das Altkirchenslawische -аго. Dieser Punkt hat also gar nichts zu bedeuten. Ebenso wenig ist endlich auch das zur Charakterisierung der „russischen“ Gruppe von Mikkola aufgestellte Merkmal stichhaltig, nämlich daß der Übergang von e in o nach j und nach č, č, š dem ganzen russischen Sprachgebiete gemeinsam sei; wir haben davon im Paragraph 18 ausführlich gesprochen.

Es bleiben also im ganzen nur noch drei Merkmale der „russischen“ Gruppe übrig: der Vollaut, das o- für e- im. Anlaut und das unterstützende о (огонь) — die flexivischen gemeinsamen Merkmale (s. die Listen, Punkt 1), die alle nur jüngere Analogiebildungen betreffen, können wohl nicht die Aufstellung einer „urrussischen“ Periode begründen. Von jenen drei Merkmalen ist das unterstützende o das jüngste und von dem Wandel des ъ in о abhängig, daher für sich von keinem Wert. Von dem anlautenden o- für e- in einigen wenigen slawischen Wörtern haben wir schon S. 71 ff. gezeigt, daß es urslawisch oder gar indogermanisch sein dürfte, also jenseits der angeblichen „urrussischen“ Periode liegt. Ein solches Merkmal, das sich übrigens weder im Russischen noch im Ruthenischen zu einem Lautgesetz ausgebildet hat, darf denn doch nicht die Grundlage zu einem sprachgeschichtlichen Gebäude abgeben.

________________________

1) Auch im Altkirchenslawischen sind wir mit Rücksicht auf die außerordentlich genaue Lautwiedergabe in den alten Denkmälern nicht imstande, unter РЪ, РЬ, ЛЪ, ЛЬ silbenbildende r, l zu verstehen (vgl. Kulbakin, Rocz. slaw. I, 52 und Древ.-церк.-слов. языкъ, 1913, S. 57).

 

§ 279. Der Vollaut bleibt also als der einzige russische, weißrussische und ruthenische Lautwandel übrig, der in die Zeit fällt oder doch hineinreicht,1) die man für ein „Urrussisch“ ansetzen könnte. Für ihn und die mit ihm zusammenhängende Frage der Liquidametathese ist bisher keine einheitliche, allgemein angenommene Erklärung gegeben worden. Wir haben oben (9, 7 und 19) versucht, eine einheitliche Erklärung zu ermitteln. In jedem Falle aber gibt uns auch der Vollaut und die Liquidametathese keinen Anhalt zu einer reinlichen Scheidung der slawischen Sprachen in sprachgeschichtliche Gruppen. Zunächst ist die Erscheinung im Anlaut von der im In-laut zu unterscheiden. Im Anlaut haben wir teils allgemein ra-, la- (рамя, рало, лакомий, ланя), teils russ., weißruss., ruthen., poln., sorb., tschech. ro-, lo- (рокита, робо́та, ріля́, лось, ло́коть, ло́дка), slowakisch, slowenisch, serb., bulg. rа-, la- (aksl. auch al- neben la-), im Inlaut russ., weißruss., ruthen. oro, ere, oZo, poln., sorb. ro, re, lo, le, tschech., slowen., serb., bulg. ra. rě, la, lě (56 im Ruthenischen erhaltene Stämme). Schon die verschiedene Gruppierung je nach Anlaut oder Inlaut muß das Bedenken erregen, daß diese lautgeschichtlichen Vorgänge nicht wesentlich und durchgreifend genug sein dürften, um darauf sprachgeschichtliche Gruppen aufzubauen. Und warum soll man denn aus den fünf vorliegenden Spracb- gruppen gerade die „russische“ herausgreifen? Wer dieses Merkmal nicht für ein bloßes Zeichen der Nachbarschaft in der Urzeit, sondern für so wichtig und entscheidend für die Einteilung und sprachgeschichtliche Gruppierung der slawischen Sprachen hält, der müßte um so mehr das Tschechische zu den südslawischen Sprachen stellen, weil die gemeinsame Entwicklung zu ra, rě, la, viel weiter geht, viel kräftiger und auffälliger ist als die Entwicklungen in den anderen Sprachen. Niemand tut das; viele und zum Teil weit zurück gehende unterscheidende Merkmale des Tschechischen lassen es nicht zu. Dasselbe Hindernis aber stellt sich auch der Vereinigung des Ruthenischen mit dem Russischen zu einer sprachgeschichtlichen Einheit entgegen.

______________________

1) Mikkola, Ursl. Gramm., S. 14, setzt schon für das Urslawische drei dialektische Formen an: 1. talt, tart, 2. tolt, tolt, 3. tolъt, torъt. Kulbakin, Древ.-церк.-слов. языкъ, 1913, S. 83, sagt: „Der Umstand, daß ursl. or, er bei der Metathesis eine Dehnung des o zu a und des e zu ē = ě erfahren hat, weist auf das hohe Alter dieses Wandels jener ursl. Lautverbindungen 5 gewöhnlich hält man das südsl. und tschech. ra, la, , für eine dialektische Erscheinung der ursl. Zeit“. Damit will aber Kulbakin nicht sagen, daß diese Erscheinung eine Grundlage für die Einteilung der Dialekte des Urslawischen bilde und daß das Tschechische mit dem Südslawischen vereinigt werden solle; denn er sieht in allen lebenden slaw. Sprachen eigene einstige Mundarten (говоры) des Urslawischen (S. 2).

 

§ 280. Das ganze ruthenische Vokalsystem unterscheidet sich nämlich wesentlich vom russischen. Die unbetonten Vokale werden im Russischen stark reduziert (s. Broch, Slaw. Phon., S. 176 ff.), im Ruthenischen bleiben sie, wie im Serbischen und Tschechischen, volle und ganze Vokale mit deutlicher Artikulation; das o verschiebt sich im Ruthenischen gegen das u hin, im Russischen allein in entgegengesetzter Richtung gegen das а hin. Die zwei ursl. Laute у und і sind im Ruthenischen, wie im Südslawischen, in alter Zeit zusammengefallen,1) im Russischen nicht. Urslaw. і ist im Ruthenisclien, wie im Bulgarischen, zu einem e-Laut geworden, im Russischen nicht. Urslaw. ě und e sind bloß im Russischen zusammengefallen, im Ruthenischen nicht, ě gibt im Ruthenischen ji, і, im Gegensatz zu e. Urslaw. e und sogar manches ё geht im Russischen vor harten Konsonanten in jo über, im Ruthenischen nicht. Urslaw. o und e werden im Ruthenischen in geschlossener Silbe zu i, ji, im Russischen nicht. Zwischen den sehr alten (Mikkola, Urslaw. Gramm., S. 41), vielleicht schon ur- . slawischen (Fortunatov, Schachmatov, Lapunov, Schtschepkin, s. Kulbakin, Древ.-церк.-слов. языкъ, 1913, S. 35, 38, 68) Nebenformen ъj—yj, ьj—ij entschied sich das Ruthenische für die zweite, das Russische allein für die erste (ой, ей). So scheidet sich das Russische von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart durch die Entwicklung der Vokale vom Ruthenisclien scharf ab.

Während ferner im Russischen vor urslaw. і und e die t-Laute und sogar die Lippenlaute, wie im Weißrussischen, Polnischen und Sorbischen, erweicht werden, ist eine solche Erweichung dem Ruthenisclien, wie dem Südslawischen, fremd; im Gegenteil sind im Ruthenischen sogar urslaw. ńe, l'e, ŕe und će zu ne, łe, re und ce erhärtet.

Außer den weichen Lippenlauten fehlt dem Ruthenischen, wie dem Südslawischen, im allgemeinen auch das weiche r, dagegen besitzt es in hohem Grade weiche ś, ź und ć, was das Russische nicht kennt; so steht den ruthen. Suffixen -ець; -ця, -иця im Russischen -ецъ, -ца, -ица gegenüber. Urslaw. zg wurde im Altrussischen anders behandelt als im Altruthenischen (s. S. 93). Urslaw. dj ergibt im Ruthenischen , im Russischen bloßes ž — ein sehr alter Unterschied. Nicht weniger alt ist der Wandel des urslaw. g zu h im Ruthenischen, der auch im Tschechischen und Sorbischen durchgeführt ist. Im Wort- und Silbenauslaut verbinden sich im Ruthenischen v und ł als u mit dem vorhergehenden Vokal zu einem Diphthong, im Russischen nicht, das -v wird dort sogar f. Die stimmhaften Konsonanten im Auslaut werden überhaupt in den zwei Sprachen ganz verschieden behandelt: im Russischen des Stimmtones vollständig beraubt, im Ruthenischen (wie auch im Serbischen) nicht. Daher auch der Unterschied zwischen russ. отъ und ruthen. од, від, russ. съ und ruthen. з.

____________________________

1) Deshalb gehört nach J. Baudouin de Courtenay (Ученыя записки имп. Юрьевскаго Унив. 1893, S. 23) „das kleinrussische dialektische Gebiet .... zur südlichen Zone der slaw. Sprachwelt im Gegensatz zur nördlichen“. Welche Bedeutung diesem Unterschied im Vokalsystem A. Meillet beimißt, s. Einf. in d. vgl. Gramm, d. ind. Sprachen (Printz) S. 12 f.

 

§ 281. Von den Unterschieden in der Verbalilexion fällt weit hinter die angebliche „urrussische“ Zeit zurück der zwischen dem ruthen. -ть der 3. P. Sing. und Plur. und dem russ. -тъ und der zwischen ruthen. (auch serb.) -мо und russ. -мъ in der 1. P. Plur. In diesen zwei Punkten reicht die Scheidung zwischen Ruthenisch und Russisch bis ins Urslawische zurück.1) Nach -e, -e der 3. P. Sing. fällt im Ruthenischen -ть ab, im Russischen allein -тъ nicht. Das Futurum wird im Ruthe- nischcn außer mit буду auch mit му gebildet, im Russischen nicht. In der 2. P. Plur. Impt. verkürzt das Ru-thenische allein die Endung -те zu -ть, das Russische nicht. Im Plur. Impt. der і-Verba ist im Ruthenischen die analogische Form -ěmъ, -ěte durchgedrungen, während im Russischen die Analogie gerade in der entgegengesetzten Richtung gewirkt hat. Charakteristisch für das Ruthenische ist auch бути, був gegenüber dem russ. быть, былъ; andererseits für das Russische die k-Laute im Impt. пеки, -ите, бѣги, -ите, gegenüber dem ruthen. печи́, печі́ть, біжи́, біжі́ть (urslaw. рьсі, picěte usw.).

Der Vok. Sing. m. und f. und der Dual sind im Rutlienisehen erhalten, im Russischen nicht. Im Dat. Sing. der m. o-Stämme hat sich im Ruthenischen, wie im Polnischen und Sorbischen, die Endung -ovi eingebürgert, im Russischen nicht. Der Nom. Plur. der weichen m. o-Stämme ist im Ruthenischen durch den Akk. ersetzt, im Russischen nicht. Die k-Laute werden im Ruthenischen vor der Dat.-Lok.-Endung in regelmäßiger Weise erweicht, im Russischen finden wir seit alter Zeit die unerweichten k-Laute. Das Russische wendet noch die substant. Deklination für das prädikative Beiwort an, das Ruthenische nicht.

Noch einige andere unterscheidende Merkmale sind unseren Listen zu entnehmen.

________________________

1) Auch Kulbakin (Древ.-церв.-слов. языкъ 1913, S. 124 und 125) nimmt an, daß -ть neben -тъ schon im Urslawischen nebeneinander bestanden haben und -MO sogar auf eine indogermanische Variante zurückgehe.

 

§ 282. Gehen wir zum Schluß auf das Gebiet des Wortschatzes über, so haben wir zunächst kurz darauf hinzu weisen, daß das Russische gleichfalls eigene zusammengesetzte Suffixe in großer Anzahl ausgebildet hat und sogar in der Schöpfung neuer Verba, besonders durch Anwendung des dem Ruthenischen fremden Suffixes -ывать, eigene Wege gegangen ist. Ein großer Teil des russischen Wortschatzes ist den Ruthenen fremd und umgekehrt. Man vergleiche z. B. russ. баринъ, барыня (ruth. пан, па́нї) Herr, Frau, барчонокъ (пани́ч) junger Herr, воръ (зло́дїй) Dieb, врачъ (лїка́р) Arzt, мальчикъ (хло́пець) Knabe, мальчишка (хлопчи́ще) Junge, Bube, мотъ (марнотратник) Verschwender, помѣщикъ (дї́дич) Gutsbesitzer, портной (краве́ць) Schneider, ребёнокъ (дити́на) Kind, скряга (скупа́р) Geizhals, тунеядецъ (дармої́д) Tagedieb, бабочка (моти́ль) Schmetterling, блюдо (полу́мисок) Schüssei, бремя (тяга́р) Last, время (час) Zeit, вѣтвь (галу́за) Zweig, глазъ (о́ко) Auge, греза (мрі́я) Traum, Einbildung, грусть (грижа́, нудьга́) Kummer, Traurigkeit, деревня (село́) Dorf, игрушка (за́бавка) Spielzeug, измѣна (зра́да) Verrat, крыса (щур) Ratte, кудри (ку́чері) Locken, лобъ (чоло́) Stirne, ларецъ (скри́пка) Kasten, лошадь (кінь) Pferd, луна (мі́сяць) Mond, лучъ (про́мінь) Strahl, ля- гушка (жа́ба) Frosch, молнія (бли́скавиця) Blitz, наружность (вид) Aussehen, одолженіе (ла́ска) der Gefallen, пашня (ріля́) Acker, плеть (баті́г) Peitsche, полнолуніє (по́вень) Vollmond, польза (хосе́н, пожи́ток, ко́ристь) Nutzen, прудъ (став) Teich, роща (гай) Hain, сарай (стодо́ла, клу́ня) Scheune, скамейка (ла́вка, ла́вочка) Bank, совѣтъ (ра́да) Rat, стаканъ (ча́рка) Glas, сутки (доба́) Tag, 24 Stunden, сходство (поді́бність) Ähnlichkeit, тоска (ту́га) Gram, Kummer, улыбка (у́сьміх) Lächeln, утка (ка́чка) Ente, утро (ра́нок) Morgen, шагъ (сту́пень, крок) Schritt, ямщикъ (ві́зник, фі́рман) Fuhrmann usw.; башмакъ (череви́к) Schuh, ветчина (ши́нка) Schinken, вещь (річ) Sache, галстукъ (крава́тка) Halsbinde, деньги (гро́ші) Geld, жаркое (пече́ня) Braten, завтрак (снїда́нє) Frühstück, зонтикъ (парасо́ля) Schirm, капризенъ (примхова́тий) launisch, карандашъ (олове́ць) Bleistift, картина (о́браз) Bild, кольцо (пе́рстень) Ring, косынка (хусти́на) Kopftuch, мелочь (дрібні́) Münze, Kleingeld, образъ (спо́сіб) Art, Weise, охотник (мисли́вець) Jäger, перчатка (рукави́ця, -и́чка) Handschuh, платокъ (ху́сточка) Taschentuch, платье (убранє́, оде́жа) Kleid, рубаха (соро́чка) Hemd, рюмочка (ча́рочка) Gläschen, сапоги (чо́боти) Stiefel, спичка (сїрни́к) Zündhölzchen, строка (рядо́к) Zeile, суевѣріе (забобо́ни) Aberglaube, супъ (росі́л) Suppe, сургучъ (ляк) Siegellack, сюрпризъ (несподї́ванка) Überraschung, тетрадь (зо́шит, зши́ток) Heft, ужинъ (вече́ра) Abendessen, фонарь (лїхта́рня) Laterne, часъ (годи́на) Stunde, часы (годи́нник) Uhr, чемоданъ (ку́фер, скри́нка) Koffer, чулка (панчо́ха) Strumpf, шляпа (капелю́х) Hut, этажъ (пове́рх) Stockwerk, щи (капусня́к) Kohlsuppe usw.1); большой (вели́кий) groß, громадный (величе́зний) riesig, жидкій (рідки́й) dünn, длинный (до́вгий) lang, истинный (правди́вий) wahrhaft, echt, медленный (по-ві́льний) langsam, мелкій (мали́й, дрібни́й) klein, наглый (зухва́лий) frech, настоящій (правди́вий) echt, опасный (небезпе́чний) gefährlich, отвратительный (осору́жний, бри́дкий, ги́дкий) häßlich, похожій (поді́бний) ähnlich, скользкій (ховзьки́й) glatt, schlüpfrig, тщетный (даре́мний) vergeblich usw.; бранить (ла́яти) schelten, бросать (кида́ти) werfen, вопрошать (пита́ти) fragen, дерзать (сьмі́ти) wagen, я долженъ (пови́нен) ich muß, имѣть (ма́ти) haben, извинить (вибача́ти) entschuldigen, кача́ть (хита́ти) schütteln, лгать (бреха́ти) lügen, надо (тре́ба) es ist nötig, нельзя (не мо́жна) man kann nicht, нравиться (подо́бати ся) gefallen, опасаться (боя́ти ся, побо́ювати ся) fürchten, пахать (ора́ти) pflügen, портить (псува́ти) verderben, потушить (загаси́ти) auslöschen, помѣшать (перешко́дити) verhindern, прижать (притисну́ти) drücken, наказать (покара́ти) strafen, садиться (сїда́ти) sich setzen, заставлять (си́лувати, приму́шувати) zwingen, шалить (пустува́ти) tollen, usw. другъ съ дру- гомъ (один з о́дним, оди́н з друôгим) miteinander, сдѣлай милость, пожалуйста (будь ла́ска) sei so gut usw. Selbst durch solche Wörter, denen man in der Rede sozusagen auf Schritt und Tritt begegnet, Adverbe und Partikeln, Bindewörter und Vorwörter, unterscheiden sich die zwei Sprachen nicht selten, wie wenn sie geographisch gar nicht zusammenhingen; z. В. авось (либо́нь) vielleicht, вдругъ (нара́з) plötzlich, вмѣстѣ (вку́пі) zusammen, внезапно (ми́ттю, притьмо́м) plötzlich, возлѣ (коло, біля́) neben, вскользь (наскі́сь, пла́зом) schräg, obenhin, вѣдь (таж, а́дже) ja, doch, wahrlich, ежели (як, коли́) wenn, ежедневно (що дня, що день) täglich, еле — еле (ле́дви) kaum, здѣсь (тут) hier, или (а́бо) oder, когда (коли́) wann, когдато (коли́сь) einmal, кое-гдѣ (де́куди) hie und da, конечно (а вжеж) gewiß, наизусть (напа́мять) auswendig, напрасно (даре́мно) vergebens, небре́жно (недбало) nachlässig, немножко (тро́шки) ein wenig, немед-ленно (за́раз, біга́й, нега́ючись) sofort, но (а́ле) aber, нѣтъ (нема́) es gibt nicht, обыкновенно (звича́йно) gewöhnlich, очень (ду́же) sehr, подлѣ (ко́ло, біля́, при, поз) neben, почти (майже́, сливе́) fast, пусть (неха́й, най) als Wunschpartikel, развѣ (хиба́) etwa, denn, сквозь (крізь) durch, спустя (по) nach, черезъчуръ (зана́дто) zu, allzu usw. Die Scheidewand zwischen Ruthenisch und Russisch reicht sogar bis in das Gebiet der Pronomina hinein: какъ (як) wie, какой (який) was für ein, качество (я́кість) Eigenschaft, любый (якийбу́дь) irgend einer, ein beliebiger usw. usw.

__________

1) Diese Reihe von Beispielen, die noch bedeutend vermehrt werden könnte (Monatsnamen, Handwerkernamen u. dgl.), soll zeigen, daß die Wege der Kulturentwicklung bis in die Neuzeit den beiden Völkern nicht gemeinsam waren.

 

§ 283. Wir glauben hinreichend ausführlich nachgewiesen zu haben, daß es kein „Urrusisch“ gegeben hat; den Glauben an ein „Urwestslawisch“ und „Ursüd- slawisch“ haben schon andere zerstört.

 

§ 284. Die Einteilung der slawischen Sprachen in die drei Gruppen ist ja auch nie in der slawischen Philologie ein unbestrittener Lehrsatz gewesen. Die oben an- gestellten Untersuchungen zeigen aufs deutlichste, daß sie nicht so sehr auf sprachgeschichtliche Tatsachen und deren richtige Abwägung aufgebaut war, als vielmehr auf die geographische Lage (vgl. Богородицкій, Общій Курсъ, 1907, S. 3, Note), auf die Richtung einstiger Wanderungen (Niederle) und zumeist nur, wie Mikkola sich ausdrückt, als „im Hinblick auf die jetzigen Verhältnisse gewissermaßen berechtigt“ angesehen wird. Die Geschichte der Ansichten über eine Einteilung dieser Sprachen nach Gruppen hat zuletzt L. Niederle, Slovanské Starožitnosti, I, 111—122 kurz und bündig zusammengestellt; vgl. auch Jagić, Einige Streitfragen, ASPh. XIX, XX, XXII und ebenda XXV, 144. Lange Zeit galt die von Dobrovský nach sprachlichen Merkmalen aufgestellte Teilung in zwei Gruppen, dann nahm der Geschichtsforscher Palacký die Dreiteilung vor. Doch fehlte es nicht an ernsten und gewichtigen Forschern, die eine Einteilung in Gruppen entschieden ablehnten; so Schlözer, Miklosich und Johannes Schmidt, dessen Lehre von der Sprachentwicklung auch Jagic „ihrem Wesen nach für richtig hält“. In der neuesten Zeit treten deutliche Zeichen der Umkehr auf: Kulbakin gibt die Gruppeneinteilung auf, und Hujer (Rocz. slaw. V, 226) begrüßt diese Tat mit Anerkennung und Befriedigung, auch Mikkola legt der Dreiteilung keinen sprachgeschichtlichen Wert bei, sondern hält an ihr eigentlich nur noch als an der landläufigen und geographisch brauchbaren Gliederung fest. So nähert man sich allmählich dem Grundsatz, den der Altmeister der slawischen Philologie Miklosich in seiner Vergleichenden Grammatik der slawischen Sprachen befolgt hat.

So wie auf dem Gebiete des Indogermanischen (vgl. S. Feist, Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Indogermanen, 1913), muß man auch in der Auffassung der Verwandtschaft der slawischen Sprachen auf jede Schematisierung verzichten.

__________________________

1) So hat man die altruthenischen Denkmäler unter dem Namen „altrussisch“ mit den wirklich altrussischen vermengt; und manchen daraus folgenden Irrtümern begegnet man noch in den neuesten slawistischen Schriften, obgleich Jagić und Krymskyj schon die „altrussischen“ Denkmäler gesichtet haben. — Mit ungeheurer Anstrengung des Verstandes und der Phantasie hat Budde (Лекціи, 1907), von diesen Fesseln gehemmt, den vergeblichen Versuch gemacht, Ruthenisch und Russisch aus einem „Urrussischen“ zu erklären.

 

§ 285. Die nur aus äußerlichen Gründen vorgenommene Angliederung des Ruthenischen ans Russische hat der wissenschaftlichen Erforschung des Ruthenischen Fesseln angelegt.1) Zu dieser Vermengung von Russisch und Ruthenisch und der ganzen daraus folgenden Verwirrung haben beigetragen: der Name Русь und руський, die politische Geschichte der zwei Völker, die vorwiegend gemeinsame Kirche mit ihrer gemeinsamen Kirchensprache, welche lange zugleich die Schriftsprache war, die histo-rische Schreibung des Russischen und die geringe Verbreitung der Kenntnis des Ruthenischen unter den Slawisten.

_________________

1) Ein Urteil in diesem Sinne hat auch die St.-Petorsburger Akademie d. Wiss. gefällt (Объ отмѣнѣ стѣсненій малорусскаго печатнаго слова, Сиб. 1905); in der zur Abgabe dieses Gutachtens der Akademie eingesetzten Kommission befanden sich unter anderen F. E. Korsch, О. O. Schachmatov und F. F. Fortunatov.

 

§ 286. Macht man sich von diesen Fesseln los und hält sich unbefangen bloß die sprachlichen und sprachgeschichtlichen Tatsachen vor Augen, so erkennt man im Ruthenisclien eine selbständige,1) einheitliche slawische Sprache mit kräftiger Sonderentwicklung und eigenem Gepräge, die sich allen anderen slawischen Sprachen als Schwestersprache an die Seite stellt, mit jeder, auch mit der entferntesten Schwester durch eine Menge gemeinsamer Züge verbunden, von keiner an Reinheit übertroffen.

 

24.10.2013