Deutsche sollen begreifen, dass sie Angst vor ihrem eigenen Spiegelbild hatten

Die Deutschen sagen, dass das Hauptgefühl gegenüber Russland die Schuld am Entfachen des Zweiten Weltkriegs sei. Es ist nicht wahr. Denn dieser Krieg wurde sowohl vom deutschen als auch vom russischen Volk entfesselt. Und die Hauptsache ist: das deutsche Volk lässt sich weitgehend nicht vom Schuldgefühl, sondern von der unzureichend bewussten Angst vor Russland leiten. Die Angst wird zu Unrecht als die Schuld bezeichnet. Wieder einmal zahlt die Ukraine für deutsche Fehler.

 

Interview mit Roman KECHUR, dem Präsidenten der ukrainischen Konföderation für psychoanalytische Psychotherapien, Leiter der Abteilung für Psychologie und Psychotherapie der Ukrainischen Katholischen Universität

 

– In seiner berühmten Bundestagsrede hat Timothy Snyder die deutsche historische Verantwortung gegenüber der Ukraine thematisiert. Er betonte, dass sich das deutsche Volk keiner Verantwortung gegenüber den Ukrainern bewusst sei und verbinde diese voll und ganz mit den Russen. Erwächst diese Asymmetrie der Verantwortung etwa aus den unterschiedlichen Schuldgefühlen?

 

– Die Verantwortung ist eine soziale Dimension der Schuld. Schuldgefühle sind eine psychologische Dimension, und die Verantwortung ist eher eine gesellschaftliche Dimension.

 

Timothy Snyder hat die Frage sehr gut gestellt. Soweit ich mich erinnere, hat er sie rhetorisch formuliert. Auf diese rhetorische Frage habe ich jedoch eine konkrete Antwort.

 

Eigentlich hat es mich schon immer interessiert: warum ist diese Verantwortung so asymmetrisch? Warum wird in den deutschen Diskussionen so selektiv über die Schuld gesprochen? Warum fühlt sich niemand schuldig den Ukrainern gegenüber, wohl aber den Russen gegenüber? Zuerst dachte ich, dass es vielleicht irgendwelche rationale, pragmatische Faktoren gibt – zum Beispiel, dass wir keine Atombombe oder kein billiges Gas haben. So war meine ursprüngliche Antwort – vielleicht eine etwas zynische. Ich kehrte zu diesen Überlegungen immer wieder zurück – und begriff letztendlich, dass das deutsche Volk der Selbsttäuschung zum Opfer gefallen ist.


Die Deutschen sagen, dass das Hauptgefühl gegenüber Russland die Schuld sei. Das Schuldgefühl wegen des Zweiten Weltkriegs. Das ist zunächst einmal falsch. Denn der Zweite Weltkrieg wurde von beiden Völkern entfesselt – sowohl vom deutschen als auch vom russischen. Und die Hauptsache ist: Die ganze Geschichte rings um Schuld oder Verantwortung ist bewusst und etwas übertrieben. Das deutsche Volk lässt sich weitgehend nicht vom Schuldgefühl, sondern von der unzureichend bewussten Angst vor Russland leiten. Somit befinden wir uns alle in einer Situation, in der die Angst unangemessen als die Schuld bezeichnet wird.

 

Wenn wir in diesen Diskussionen „Schuld“ durch „Angst“ ersetzen, dann wird deutlich, warum die Deutschen sich so verhalten: weil sie keine Angst vor Ukrainern, sondern eine unbewusste Angst vor Russen haben. Die Deutschen sind eine rationale Nation, diese Angst aber verengt die möglichen Strategien der Beziehungen zu Russland bis auf ein Dilemma: entweder mit Russland zu kämpfen – oder mit Russland zu handeln. Natürlich, wenn sie Angst vor den Russen haben, und dieses Trauma nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch lebendig ist, dann wird gerade der Handel aus diesen zwei Optionen gewählt. Ihre Reaktion auf eine unbewusste und daher eine übertriebene Angst besteht darin, eigene Emotionen durch wirtschaftliche Beziehungen zu rationalisieren. Den Aggressor durch Handel zu kontrollieren.

 

– Weil es unter anderem auch profitabel ist.

 

– Ja. Die Deutschen glauben, dass die Russen auch rational sind. Die Deutschen bieten einen rationalen Ausweg – wir werden handeln. Sie verstehen aber die "mysteriöse russische Seele" nicht. Sie verstehen nicht, was „russische Postmoderne“ ist. „Russische Postmoderne“ bedeutet, dass wir mit einer Hand handeln und mit der anderen kämpfen. Das passt perfekt in das Konzept der „mysteriösen russischen Seele“. Denn das russische Volk, der „russische Mann“, benimmt sich wie ein kleines Kind – er denkt, dass Erwachsene seinen Schaden nicht bemerken. Er steht für Frieden, er steht für Handel – die anderen werden einfach nicht bemerken, dass er kämpft.

 

Die Deutschen verstehen die Russen ganz und gar nicht. Nicht deswegen, weil sie dümmer sind. Im Gegenteil, die deutsche Nation ist sehr intelligent. Sie verstehen die Russen nicht, weil sie Angst haben. Daraufhin bemühen sie sich, ihre Angst zu rationalisieren, sie versuchen, das Verhalten, das eigentlich von der Angst diktiert wird, rational zu erklären.

 

An den ersten Tagen des Krieges Russlands gegen die Ukraine hielt der Bundeskanzler Olaf Scholz eine klangvolle Rede, in der er erklärte, Putins Krieg habe "die Deutschen vom historischen Schuldgefühl befreit". Was hätte er damit gemeint?

 

– Über Scholz' Intentionen kann ich statt ihn nichts sagen. Ich kann lediglich sagen, wie ich diesen Prozess von der Seite sehe. Die Politiker drücken sich sehr oft in Klischees aus. Sowohl Merkel als auch Scholz sind da keine Ausnahme. Nicht oft ist es möglich, eine originelle Meinung von Politikern zu hören. Politiker sind Protagonisten der breiten Masse. Wenn die Massen eine bestimmte Meinung vertreten, so müssen die Führungskräfte an diesem intellektuellen Mainstream festhalten, sonst werden sie sie nicht gewählt.

 

Wenn sich das deutsche Establishment von Schuldgefühlen leiten ließe, würde es sich den Ukrainern gegenüber stärker verantwortlich fühlen als den Russen gegenüber. Das Territorium der Ukraine wurde während des Zweiten Weltkriegs vollständig besetzt. Fast sieben Millionen Menschen sind da ums Leben gekommen. Dabei waren die Ukrainer einfach Opfer der Umstände – im Gegensatz zu den Russen, die die Titularnation des Imperiums waren …

Wie zeigt sich das heute? Es gibt viele gute Menschen in Deutschland. Das sehen wir jetzt, indem die Deutschen – nicht aus Angst, sondern aus Gewissen, aus Mitgefühl – Hunderttausenden Ukrainer helfen. Sie sind bereit, mit anzupacken, bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, bereit, viel Geld auszugeben – aber nur bis zur Grenze ihrer Angst. Sie haben Angst, uns mit Waffen zu helfen.

 

Ich würde es zusammenfassen: das Problem besteht nicht darin, dass die Deutschen zu wenig Schuld haben. Das Problem ist, dass die Deutschen ihre Angst zu wenig reflektieren. Und von Emotionen geleitet werden, nicht von Ratio.

 

– Wurde diese Angst durch die Niederlage im Krieg verursacht?

 

– Ja. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt. Der deutsche Nationalsozialismus war eine völlig totalitäre Struktur, eine Struktur der totalen Kontrolle. Die Gesellschaft stand unter der absoluten Kontrolle der Nazis. Diese Kontrolle wurde nach außen projiziert. Die Nazi-Doktrin sah vor, dass das deutsche Volk zur totalen Kontrolle über die ganze Welt gelangen würde.

 

Es war unmöglich, diesem Totalitarismus zu widerstehen. Dieser Totalitarismus in der deutschen Idee war absolut allmächtig. Aber er verlor – und begann nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg sich auf die Russen zu projizieren. Nicht Adolf Hitler, sondern Wladimir Putin ist jetzt der Träger der totalitären Unbesiegbarkeit.

 

Die unzureichende intellektuelle Verarbeitung der Folgen des Zweiten Weltkriegs und das Verbot unkonventioneller Kriegsgedanken machten es unmöglich, diese Erfahrung nachzuvollziehen. Angst wurde Schuld genannt. All dies war verpackt, oben mit Beton ritueller Schuld gefüllt. Das Ergebnis war eine unerkannte Grundemotion – die Angst.

 

Deutsches Verhalten ist eigentlich irrational. Sogar ein Kind weiß, dass Nord Stream eine Möglichkeit ist, die osteuropäischen Länder zu umgehen! Und dass es nicht nur um wirtschaftliche Interessen geht, sondern um die Räumung des Territoriums für das Schlachtfeld – damit die Russen, die mit dem Westen Handel treiben, die Völker Osteuropas erobern können! Das wussten alle, ausgenommen die hochintelligenten Deutschen. Wieso denn? Weil sie Angst hatten. Die Angst erlaubte ihnen nicht zu denken.

 

– Auch jetzt sagt Deutschland: wir müssen abwarten, bis Europa auf russisches Gas verzichten könne, eine sofortige Absage sei zu teuer. Das heißt, sie denken immer noch nach?

 

– Mit anderen Worten, sie wollen, dass wir ein zweites Mal für ihre Fehler bezahlen. Wir müssen aber antworten, dass sie für ihre Fehler bezahlen sollen, nicht wir. Wir zahlen bereits viel für unsere eigenen Fehler.

 

Wie wird dieser nicht überwundener Totalitarismus auf Russland projiziert? Das heißt, der Totalitarismus ist in der deutschen Nation immer noch nicht verarbeitet?

 

– Technisch gesehen ist die Wahrnehmung des Totalitarismus eine Idee der totalen Kontrolle, einer absolut unbesiegbaren Kraft. Sie projizierten es lange auf sich selbst: wir sind eine überlegene Nation, wir sind eine höhere Rasse. Übrigens – ich muss hinzufügen – ist dieses Phänomen allen Völkern gemeinsam. Alle Nationen haben extrem radikale Kräfte, die periodisch mehr oder weniger populär werden. Diese Idee brodelt in jeder Nation, sie muss mit liberaleren, gemäßigteren Ansichten konkurrieren – denn sonst würde diese Idee die Menschen immer wieder ins Blutvergießen treiben, zu den Überlegenheitsideen, zum Krieg.

 

Deutsche haben das in extremen Formen erlebt. Sie verloren im Zweiten Weltkrieg. Es gibt aber Russen, die ein Spiegelbild dieses Phänomens sind und den Krieg gewonnen haben. Zwischen diesen Nationen liegt ein Abgrund. Sie sind gegensätzlich organisiert, gegensätzlich orientiert. Aber gleichzeitig liegen sie beide auf der gleichen Achse, und in Bezug auf den Totalitarismus ähneln sie einander wie Zwillinge. Damals war Hitler – jetzt ist Putin. Nun sind nicht die Deutschen totalitär, sondern die Russen.

 

Das bedeutet übrigens (und das ist wichtig), dass im unbewussten Sinne der Deutschen die Ukrainer kein Recht haben, den Russen Widerstand zu leisten. Man glaubt, dass es unmöglich ist, den Russen Widerstand zu leisten.

 

Tatsächlich erklärt dies vom Standpunkt der Sozialpsychologie Snyders zweite These – dass im Zweiten Weltkrieg tatsächlich darum gekämpft wurde, wer die Ukraine kontrollieren wird – entweder die Russen oder die Deutschen. So wurde die Ukraine nicht als Subjekt, sondern als ein umkämpftes Kriegsobjekt gesehen. Wenn im Massenbewusstsein der Deutschen die Ukraine immer noch als Objekt gesehen wird (sie haben die Ukraine an Russland verloren, und jetzt kann Russland über uns – Ukrainer – verfügen, wie es will), dann haben die Ukrainer kein Recht auf Widerstand.

 

– Ich bin kein Historiker, also kann es nicht beurteilen. Obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass die Russen so ihren eigenen Totalitarismus projizieren.

Dieses Problem hat auch eine postkoloniale Dimension: Die Ukraine gehört angeblich zur sogenannten Kohorte der "kleinen Nationen". Und „kleine Nationen“ können dem „großen totalitären Volk“ nicht widerstehen. Die Deutschen glauben, die Ukraine müsse sich fügen, weil sie selbst ihre Angst so zu beherrschen pflegten: alles wird gut, die Russen werden ruhig, niemand wird angegriffen.

 

Wenn wir von diesen postkolonialen Metaphern sprechen, haben wir heute vielleicht eine Situation, in der die Ukraine aufhört, eine „kleine Nation“ zu sein, weil sie mit einer „großen Nation“ kämpft. Die ukrainische Frage ist, wie wird man zu einer "großen Nation“, d.h. wie kann man zum Subjekt werden. In der Welt, in der wir jetzt leben, ist es sehr teuer.

 

– Im Februar sagte der deutsche Minister voraus, dass der ukrainische Widerstand nicht länger als drei Tage dauern würde. Wie wirkt sich die Tatsache, dass der Krieg am vierten, vierzehnten und vierundvierzigsten Tag läuft, auf die Deutschen aus?

 

– Ich denke, dass die Deutschen den Streitkräften der Ukraine dankbar sein sollten, weil die ukrainische Armee die deutsche Neurose behandelt. Unsere Armee ist ein Psychoanalytiker für die deutsche Neurose, weil sie zeigt, dass es wirklich keine totalitäre Kraft gibt, der man nicht widerstehen kann. Und es gibt lediglich nur einen Riesen auf Lehmfüßen. Und es gibt einen verrückten, intellektuell unfähigen alten KGB-Mann, der sich einbildet, Napoleon oder Hitler zu sein. Und dass wir es mit einem korrupten, technologisch rückständigen, nicht modernisierten, ausgeraubten Staat zu tun haben, der sich selbst belügt. Dieser Staat will uns unterwerfen und erschreckt alle mit seinem Wahnsinn: „Wir werden eine Atombombe zünden, alle sollten sich vor uns fürchten…“ Die Ukraine zeigt einfach, was die wirkliche Situation ist.

 

– Aber dennoch sollte die erste Reaktion der Deutschen wahrscheinlich ein Gefühl der Demütigung sein. Weil sich herausstellt, dass das Objekt, das sie nicht als Subjekt betrachteten, dem Totalitarismus widersteht, wobei sie selbst Angst hatten.

 

– Ja, ich stimme dem zu. Denn mit der Behandlung der Angst geht die narzisstische Erniedrigung einher. Dies ist jedoch eine kleine Gebühr für die Behandlung von Illusionen. Ich denke, dass die intellektuellen Ressourcen der Menschen in Deutschland enorm sind. Sie werden es ohne Weiteres begreifen können.

 

– Wenn der Widerstand der Ukraine die Angst der Deutschen senkt, was geschieht dann mit ihrer totalitären Natur? Bleibt sie vorhanden?

 

– Wie ich schon sagte, der Totalitarismus steckt in allen – in Deutschen, Ukrainern, Amerikanern. Das Problem besteht nicht darin, wer am meisten totalitär ist, sondern darin, dass die Deutschen Schwierigkeiten haben, ihren eigenen Totalitarismus zu begreifen, weil die Gesellschaft die Affekte nicht erkennt. Sobald die Affekte, die wichtigsten dominierenden Erfahrungen, verstanden werden, wird der Totalitarismus kontrollierbar sein.

 

Die Deutschen sind nicht totalitärer als die anderen. Sie haben einfach Schwierigkeiten, den Totalitarismus zu begreifen.

 

– Wie können Deutsche davon profitieren?

 

– Sie werden rationaler sein, um die Realität zu sehen. Sie werden sich nicht mehr von Affekten leiten lassen, die das Ergebnis vergangener Traumata sind, sie werden realistischer mit der Wahrnehmung der Russen umgehen.

 

Unbewusste Affekte verdunkeln die Sicht. Sie erlauben der ganzen Nation und ihrer führenden Schicht nicht, die Realität klar zu sehen. Wenn die Deutschen die Realität nüchtern betrachtet hätten, hätten sie verstanden, dass im Osten ein neuer Hitler heranwächst, und hätten ihn nicht aufsteigen lassen. Sie hätten es am Anfang wirtschaftlich blockiert. Sie würden ihn bei der frühesten Gelegenheit unter Druck setzen, angefangen bei Transnistrien, Abchasien oder noch mehr auf der Krim. Und dann gäbe es im heutigen Europa keinen Krieg, und die Deutschen stünden viel besser da als heute.

 

– Wie reagiert Deutschland auf Russlands "jungenhafte" Eroberungsrhetorik: "Wir können wiederholen", "nach Berlin"? Macht das die Deutschen nicht nüchtern? Sehen sie es nicht als Bedrohung?

 

– Eigentlich, das nehmen sie absolut als Bedrohung wahr. Sie nehmen es viel wörtlicher als wir. Für sie sind solche Worte fast gleichbedeutend mit Taten. Und es lähmt die Deutschen einfach vor Angst.

 

– Versteht Russland selbst gut, dass eine solche Rhetorik ein wirksames Instrument ist?

 

– Putin lebte in Dresden. Er arbeitete für den KGB. Er arbeitete bei der Stasi. Er weiß um das Entsetzen, das die Russen in Deutschland auslösen. Wenn Sie in Berlin sind und in die Nähe der russischen Botschaft gehen, werden Sie sich bei dem Gedanken erwischen, dass es wie eine Vertretung der Metropole in einer Kolonie aussieht. Auf den Straßen Berlins gibt es Dutzende von Läden, die rote Fahnen, Mützen mit Ohrenklappen und Filzstiefel verkaufen – all diese sowjetischen Symbole.

 

– Die Ukrainer werden als postgenozidale, postkoloniale, posttotalitäre Gesellschaft bezeichnet; den Ukrainern werden viele historische Traumata zugeschrieben. Wie kommt es dazu, dass eine so traumatisierte Gesellschaft es wagt, den Totalitarismus zu bekämpfen – und eine andere Gesellschaft aufgrund eigenes Traumas vor Angst erstarrt ist?

 

– Hier kommen viele Faktoren zusammen. Deutsche sind anders als Ukrainer. Das bestimmende Merkmal der Deutschen ist der Hang zur Ordnung. Die Ordnung selbst wird durch Angst gehalten. Und die ukrainische Idee ist die Freiheit.

 

Die Unordnung.

 

– Unordnung ist das, was wir "auf dem Weg" bekommen. Das ist der Preis, den wir für die Freiheit zahlen. Wir haben solche Angst vor externer Kontrolle und stehen in der Opposition zu jeglicher Regierung, dass wir die Ordnung opfern, nur um die Freiheit zu erlangen.

 

Der zweite Punkt: Die meisten Ukrainer haben in der Roten Armee gekämpft. Die Ukrainer hatten nicht die Erfahrung der Niederlage wie die Deutschen.

Und drittens: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der UdSSR lebten wir mit den Russen in demselben Land. Und wir leben seit dreißig Jahren neben ihnen – wir verstehen ihre Sprache gut, viele von uns haben dort Kontakte. Wir kennen sie sehr gut. Wir haben keine Ehrfurcht vor Russen. Wir verstehen, dass der russische Panzer von sich selbst kaputt geht, auch wenn man keine amerikanische Rakete abfeuert. Wir haben keine Angst vor ihnen.

 

Wäre es für uns von Vorteil, wenn die Deutschen vor den Ukrainern Schuldgefühl hätten? Oder wäre es besser, wenn sie die Realität realistisch betrachten würden?

 

– Ich denke, wir brauchen einfach rational orientierte Beziehungen. Weil Beziehungen, die auf starken, unangemessenen Emotionen aufgebaut sind, zerbrechlich sind. Solche Beziehungen neigen dazu, sich in eine entgegengesetzte Form umzuwandeln. Ich bin viel mehr dafür, freundschaftliche Beziehungen aufgrund einer rationalen Sichtweise über die Zugehörigkeit zum europäischen Diskurs aufzubauen.

 

– Worin soll sich die Angst der Deutschen vor den Russen wenden?

 

– Nirgendwohin. Die Deutschen sollen einfach begreifen, dass sie Angst vor ihrem Spiegelbild hatten. Sie werden erkennen, dass der Russe in ihrer Vorstellung eine Halluzination ist. Und der wahre Russe sieht ganz anders aus. Das ist alles.

 

Wird der Ausgang des Krieges sich irgendwie auf das deutsche Umdenken von Angst und Schuld auswirken?

 

– Dieser Prozess hat bereits begonnen. Er läuft schon. Der Ausgang des Krieges wird ihn nicht mehr beeinflussen.

 

Wenn die Ukraine, Gott bewahre, nicht gewinnt, wird das Umdenken länger und schwieriger sein. Wenn die Ukraine gewinnt, wird es sehr schnell und intensiv vor sich gehen. Aber es hat schon begonnen. Russland hat eigene Schwäche gezeigt. Und es zeigte die Schwäche nicht nur den Deutschen, sondern auch seinem eigenen Volk. Das russische Volk hat seine Schwäche bereits eingesehen, obwohl es sich seines eigenen Zusammenbruchs noch nicht bewusst geworden ist.

 

 

Das Gespräch führten Volodymyr Semkiv und Orest Drul

 

Uebersetzt von Halyna Kotowski

 

21.04.2022